Doppelmord-Prozess Marcel H. ist laut Gutachterinnen voll schuldfähig

Im Prozess gegen Marcel H. haben am Donnerstag die psychiatrischen Gutachterinnen ausgesagt. Sie sollen Antworten geben auf die Frage nach dem Warum, die alle Beteiligten umtreibt. Doch diese Antwort bleiben sie am Ende schuldig.

 Marcel H. am 11. Januar im Landgericht in Bochum.

Marcel H. am 11. Januar im Landgericht in Bochum.

Foto: dpa, bt exa

Am Ende dieses langen Gerichtstages am Bochumer Landgericht hat man nicht das Gefühl, klüger zu sein als vorher. Zunehmend ungeduldig hören sich die Besucher im Zuschauerraum die Ausführungen der beiden Gutachterinnen an. Für die meisten dürften die psychologischen Tests, die psychiatrischen Untersuchungen, die Skalen und Punktesysteme ein Buch mit sieben Siegeln sein. Seit kurz nach neun Uhr am Donnerstagmorgen berichten die Psychologin Sabine Nowara und die Psychiaterin Astrid Rudel über ihre Untersuchungen - und kommen am Ende zu einem Ergebnis: Marcel H. ist voll schuldfähig.

Er ist körperlich und geistig gesund, zeigt keine Anzeichen einer Psychose, einer manisch-depressiven Erkrankung, von Autismus oder einer "hirnorganischen Degeneration". Das bedeutet, Marcel H. droht nun die volle Härte des Gesetzes. Unklar ist bislang, ob er nach Erwachsenen- oder Jugendstrafrecht verurteilt wird.

Seit September muss er sich in Bochum vor Gericht verantworten, weil er seinen neunjährigen Nachbarsjungen Jaden und den 22-jährigen Christopher W. getötet hat. Niemand hat bislang verstanden, warum. Das Motiv, das die Staatsanwaltschaft in ihrer Anklage annimmt, wirkt banal: Frustration über eine abgelehnte Bewerbung bei der Bundeswehr und damit verbundene Zukunftsangst.

Die Psychologin Sabine Nowara und die Psychiaterin Astrid Rudel haben Marcel H. mehrfach im Gefängnis besucht und den Prozess vom ersten Tag an verfolgt. Ihr Gutachten hat große Bedeutung: Marcel H. selbst hat sich bislang nicht zu seinen Taten oder zu seiner Biographie geäußert. Diese Lücke soll das Gutachten füllen.

Die Einschätzung zur Persönlichkeit von Marcel H. bleibt an diesem Tage aber vage. Die Psychologin Nowara spricht von einem "durchschnittlich intelligenten und durchschnittlich begabten jungen Mann, dessen Persönlichkeit keine besonderen Auffälligkeiten aufweist." Die Psychiaterin spricht später von "narzisstischen Attitüden". Deutlicher werden beide nicht. Und damit fehlt den Familien und Freunden der Opfer wohl die letzte Möglichkeit, die beiden Morde irgendwie zu erklären. Zu erklären, warum Marcel H. auf eine über die Maßen grausame Weise zwei junge Menschen tötete, ohne danach auch nur einen Anflug von Reue zu zeigen.

Im Gerichtssaal wirkte es manchmal so, als würde sich sogar die Luft abkühlen. Als ließe die soziale Kälte des Angeklagten die Temperaturen fallen. Jedes Mal wird es still, wenn die Justizbeamten H. vorführen, so still, dass man das Klicken der Fotoapparate hört.

Um H. herum sind allerhand Gefühle zu erahnen: Trauer, Aufregung, Ekel, aber auch Mitgefühl und Anteilnahme. Die beiden Mütter der getöteten Jungen umarmen sich zur Begrüßung, sitzen dicht nebeneinander, halten sich an der Hand, wenn die Schilderungen zu schlimm werden. Die Menschen im Publikum stöhnen auf, wenn wieder über eine absurde oder makabere Äußerung des Angeklagten gesprochen wird.

Doch diese Gefühle erreichen den Angeklagten nicht. Es wirkt zuweilen, als wäre dieser nicht anwesend. Regungslos, unfähig zu irgendeiner emotionalen Reaktion und stets in derselben gebeugten Haltung folgt H. dem Prozess. Selbst H.s Verteidiger spricht kaum mit seinem Mandanten.

Aus den Gesprächsprotokollen und wissenschaftlichen Untersuchungen wird aber deutlich, das Marcel H. vollkommen emotionslos, ohne Empathie und skrupellos ist. Vieles, was die Gutachterinnen sagen, hat man im Prozess schon einmal von anderen Zeugen gehört.

Sie vervollständigen das Bild eines mitleidlosen Sonderlings, der sozial verwahrloste, lieber bis zu 16 Stunden am Computer verbrachte, statt menschliche Bindungen einzugehen. Ein Jugendlicher, der sich absichtlich isolierte, von seinen Eltern, Geschwistern und Mitschülern. "Familie, das sind Personen, die einem Essen bringen", soll H. in einem der Gespräche mit den Gutachterinnen gesagt haben.

Im Gefängnis vertreibe er sich die Zeit, indem er Fantasy-Romane schreibe, soll H. gesagt haben. Und im Knast sei das Essen besser als zu Hause. Es sind Aussagen wie diese, die immer wieder irritieren.

Im Plauderton habe er das alles erzählt. "Manchmal wussten wir nicht, ob uns Herr H. nur irgendeine Geschichte erzählt", sagt die Psychologin einmal. H. habe sich einer militärisch geprägten Sprache bedient und oft Fremdwörter benutzt, diese aber nicht korrekt verwendet. Außerdem sei auffällig, dass H.s Angaben und Einschätzungen häufig widersprüchlich seien.

Schon früh soll H. destruktives Verhalten gezeigt haben: Mehrfach geriet er mit Mitschülern aneinander, wurde wegen seines Namens und seiner kleinen Statur gehänselt. Irgendwann schwänzte er lieber, als in die Schule zu gehen. Die Zeit verbrachte er mit Computerspielen. Für die Entschuldigungszettel fälschte er die Unterschrift seiner Mutter. In der Zeit, als er bei seinem Vater wohnte, soll er einmal dessen Couch angezündet haben.

Er habe schon früh damit angefangen, sich selbst als "anders" als seine Mitmenschen zu definieren. Als Junge habe er Pathologe werden wollen, er quälte Tiere oder experimentierte an ihnen herum. Den Kater seiner Mutter und den Hamster seiner Schwester soll er getötet haben. Den Wellensittich seines Vaters habe er "aus Versehen" getötet, als er eine Zimmertür zuschlug und den Vogel zerdrückte. Außerdem sezierte er Fliegen, Maikäfer, Spinnen.

"Eine Idee von Moral oder moralischem Handeln scheint er nicht zu haben", sagt die Psychologin. Einmal soll H. im Gespräch gesagt haben, dass auch für ihn die Menschenrechte gelten. "Nur weil ich jemanden umgebracht habe, kann man mich nicht töten." Doch ohne Konsequenzen wird diese Tat trotzdem nicht bleiben. Ende Januar wird das Urteil erwartet.

(heif)
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