Schriftwechsel Mein Brieffreund in der Todeszelle

Recklinghausen/Washington · Cordula Cebulla aus Recklinghausen schreibt alle zwei Wochen einem Mann, der als Mörder in Florida zum Tode verurteilt wurde. Sie erzählt von privaten Sorgen, er von dem Vergnügen, nach der Isolationshaft duschen zu können.

 Hat 50 Briefe mit einem Mann ausgetauscht, der in den USA wegen Mords zum Tod verurteilt worden ist: Cordula Cebulla (34).

Hat 50 Briefe mit einem Mann ausgetauscht, der in den USA wegen Mords zum Tod verurteilt worden ist: Cordula Cebulla (34).

Foto: Jochheim

Sie sind ein Duo wie aus einer schlechten Komödie. Cordula Cebulla (34) aus Recklinghausen ist Vegetarierin, ihr Brieffreund liebt Steaks und Burger. Sie verehrt Shakespeare, er steht auf Mangas. Ihre Wohnung misst 60 Quadratmeter und ist eingerichtet mit ausgesuchten Einzelstücken, englischen Lampen, Kissen, Bildern. Seine Zelle ist knapp ein Zehntel so groß, darin stehen ein Bett mit Mini-Regal und eine Waschbecken-WC-Kombination aus Edelstahl, Standard-Knastausführung. Seinen Namen und was genau ihm vorgeworfen wird, schreiben wir auf Bitten seiner Anwälte nicht; es geht buchstäblich um Leben und Tod.

Denn er sitzt in einer Todeszelle in den USA — wegen eines Mords, den er vielleicht nicht begangen hat. Die Zweifel an seiner Schuld sind massiv. Früher oder später wird er ein offizielles Schreiben bekommen. Das darin stehende Datum wird entweder der Tag seiner Hinrichtung bezeichnen oder jenen, an dem sein Fall erneut aufgerollt wird. Wer wollte das Risiko eingehen, seine Chancen auf eine Neuverhandlung, sein Überleben, vielleicht gar einen Freispruch zu schmälern durch einen Artikel, der, weshalb auch immer, den Verantwortlichen in der US-Justiz missfallen könnte?

"Hinrichtung", schon der Begriff klingt für uns nach Mittelalter oder Diktatur, jedenfalls nach Barbarei. Tatsächlich verbietet die Europäische Menschenrechtskonvention die Todesstrafe erst seit 2003 ohne Wenn und Aber, im Frieden wie im Krieg. Auch auf deutschem Boden wurde lange gehenkt: 1951 wurden die letzten Menschen in Westdeutschland exekutiert, in der DDR erst 1981.

In den USA sind in den 35 Jahren seitdem 1434 Straftäter per Giftspritze, Galgen oder Gaskammer, Erschießung oder Elektrischem Stuhl hingerichtet worden. Noch mehr Menschen werden im Iran, Pakistan und Saudi-Arabien durch Henker getötet, hunderte jedes Jahr. In Nordkorea und China dürften es Tausende sein. Doch die USA sind uns kulturell sehr viel näher, ein westlicher Rechtsstaat mit Demokratie und Gewaltenteilung. Und die Menschen, denen dort der Tod droht, sprechen meist eine Sprache, die auch sehr viele Europäer beherrschen, Englisch nämlich oder Spanisch.

Warum also nicht Kontakt aufnehmen und einen von ihnen mit minimalem Aufwand vielleicht vor absoluter Einsamkeit bewahren, vor Depressionen, vor dem Wahnsinn? Warum nicht das Fenster zur Welt sein für einen Menschen, dessen Lebensraum auf ein paar Quadratmeter Beton und Edelstahl, Panzerglas und Stacheldraht zusammengeschrumpft ist — und der die Bezeichnung Lebensraum nicht verdient, weil man dort nicht lebt, sondern nur auf den Tod wartet?

"Warum eigentlich nicht?"

Grund eins: Man kommt überhaupt nicht erst auf die Idee. So war es auch bei Cebulla, bis die 34-jährige Presseprecherin einen Artikel in ihrer Lokalzeitung las über eine Auszubildende, die eine solche Brieffreundschaft begonnen hatte. Sie selbst hatte sich für das Thema Todesstrafe nie besonders interessiert. Die Filme "The Green Mile" und "Das Experiment" hätten sie allerdings tief berührt, sagt Cebulla — obwohl sie sonst hartgesotten sei, was etwa Horrorfilme angeht.

Grund zwei: Die weit verbreitete Argumentation, Todeskandidaten hätten es aufgrund ihrer Taten nicht verdient, dass man sich ihnen widmet. "Das waren auch die ersten Reaktionen von meinen Freunden und Verwandten", sagt Cebulla. "Richtig ist natürlich, dass jedes Verbrechen bestraft gehört. Da gibt es nichts schönzureden, zumal auch in den USA niemand in der Todeszelle sitzt, weil er ein paar Äpfel geklaut hat." Dennoch erstreckt sich ihr Mitgefühl nicht nur auf jene, die unschuldig eingesperrt sind, denen selbst im Falle einer Freilassung niemand ihre Lebenszeit wiedergeben könnte und die jederzeit befürchten müssen, bald hingerichtet zu werden: "Niemand verwirkt seine Menschlichkeit und Menschenrechte, jeder hat menschliche Bedürfnisse. Schuldige Vergewaltiger und Mörder inklusive."

Grund drei: Die Befürchtung, die Brieffreunde würden Geld verlangen. Nachdem Cebulla ihrem Brieffreund vor einem Jahr über das speziell für diesen Zweck eingerichtete Zahlungssystem "J-Pay" 50 Dollar für Porto und Schreibmaterial überwiesen hatte, fragte ihr Brieffreund erfreut nach, ob sie das nun jeden Monat tun werde. "Nein, werde ich nicht", antwortete sie ihm darauf freundlich, aber unmissverständlich. "Meine Absicht ist, ihm Zeit zu schenken und Einblicke in meinen Alltag — aber eben kein Geld, oder nur so viel, dass er nicht draufzahlen muss. Er ist nicht mein Patenkind in Afrika. Das habe ich ihm genau so gesagt, er hat es verstanden und damit war es gut." Diese Ehrlichkeit hält Cebulla für unabdingbar: "Es ist ja nur natürlich, dass er gefragt hat, aber ich finde es immer fatal, sich zu etwas drängen zu lassen. Diese Brieffreundschaft muss auf Augenhöhe basieren, wie jede andere Beziehung auch."

Grund vier: Die sexistische Unterstellung, den Brieffreundinnen der Häftlinge (es sind zu mehr als 90 Prozent Frauen) gehe es um Bestätigung, Nähe, Liebe. Darüber kann Cordula Cebulla nur lachen. Zwar hat es vereinzelt Brieffreundinnen gegeben, die "ihre" Insassen geheiratet haben. Dabei ist die Brieffreundschaft mit einem Todeskandidaten faktisch denkbar ungeeignet zur Anbahnung einer Beziehung: Nähe aufbauen zu einem, der höchstwahrscheinlich sterben wird? Und jenseits des Atlantiks lebt, an einem Ort, wo ihm meist jede Möglichkeit zu einer freundlichen Berührung - einem Handschlag, einer Umarmung, einem Kuss - gesetzlich genommen ist, der Besucher nur durch Panzerglas sieht und per Telefon mit ihnen sprechen muss?

Eine andere Perspektive auf das Leben selbst

Von ihrer Brieffreundschaft in die US-Todeszelle profitiert auch Cordula Cebulla selbst. Sie genießt nicht nur die Freude des Schenkens ("Ich glaube, von einem Brief zehrt er länger als ich von einer Urlaubsreise"), sondern ist auch selbst aufgeregt, wenn alle zwei Wochen ein Brief von ihm im Briefkasten liegt, bis zu acht Seiten lang, handgeschrieben meist und vom Gefängnispersonal mit Tesafilmstreifen zugeklebt, nachdem die Wärter den Inhalt geprüft und für harmlos befunden haben. Sie mag den Austausch über Gott und die Welt, Politik und Psychologie — und den Alltag. Sie erzählt ihm von beruflichen Herausforderungen und privaten Sorgen, vom Leben ihres Katers Anton und Sterben ihres Katers Jakob. Er erzählt vom Vergnügen, nach einigen Tagen oder Wochen "lockdown", gefängnisweiter Isolationshaft, wieder in den Kraftraum gehen oder duschen zu dürfen. Als sie ihr Soziologiestudium erwähnt, fragt er: "Was betrachtest du persönlich als wichtig für ein stabiles Sozialleben?". Als sie Fotos geschickt hat, schreibt er: "Es hat mich entspannt, sie der Reihe nach anzusehen. Mir sind viele Dinge darin aufgefallen, zu manchen davon habe ich Fragen."

 Manchen seiner Briefe ziert eine Kleinigkeit, hier: das Bild einer Blume, wer weiß wo aufgetrieben.

Manchen seiner Briefe ziert eine Kleinigkeit, hier: das Bild einer Blume, wer weiß wo aufgetrieben.

Foto: Cebulla

Auch nach 25 Briefen versteht sie nicht, wie er so aufgeräumt klingen kann, so positiv, wie unbeirrt er Pläne macht, ohne auch nur ein einziges Mal über irgendetwas zu klagen oder einfach nur zu betonen, dass er unschuldig sei. Sie freut sich über die Möglichkeit, bei alledem ganz nebenbei ihr Englisch aufzufrischen. Und sie ist dankbar dafür, ihren Reichtum und ihre Freiheit zu erkennen im Spiegel seines Mangels an fast allem: "Ich kann arbeiten, Freunde treffen, vor die Tür gehen, einkaufen, essen, was ich will."

Durch die Brieffreundschaft hat sie eine andere Perspektive auf das Leben selbst gewonnen: "Ich gehe bewusster und dankbarer um mit dem, was ich habe. Verglichen mit ihm und auch vielen anderen lebe ich im Paradies. Für ihn ist es unmöglich, einen Regenbogen zu sehen und ich rege mich auf, wenn nichts Vernünftiges im Fernsehen kommt...".

Cebulla verbietet sich, allzu optimistisch zu sein, was das weitere Schicksal ihres Brieffreunds angeht. "Sollte es aber tatsächlich zu einer Freilassung oder auch 'nur' zur Aufhebung seiner Todesstrafe kommen, wäre ich unendlich erleichtert und froh", sagt sie. Ihn einmal zu besuchen, schließt sie nicht aus. Wenn er einmal von einem guten Brieffreund zu einem echten Freund geworden ist, und falls sie ohnehin gerade in den USA ist, eine Freundin besuchen vielleicht. Seine Exekution würde sie aber nicht live miterleben wollen, "das könnte ich einfach nicht".

"Für Robbenbabys oder hungernde Kinder findet man leichter Mitstreiter"

Gabriele Uhl, 52 Jahre alt, Lehrerin für Musik und Religion aus dem hessischen Taunusstein, konnte nicht anders — sie hat bereits drei ihrer Brieffreunde sterben sehen. Der erste, Clifford Boggess, wurde wegen zweier im Drogenrausch begangener Morde hingerichtet, nach zwölf Jahren Einzelhaft in einer 1,5 mal 2,5 Meter großen Zelle. Per Zeitungsanzeige hatte er sich vor seiner Exekution schuldig bekannt und bei allen von seinen Verbrechen Betroffenen zu entschuldigen versucht. Die Annonce schloss mit den Worten: "Ich werde hingerichtet werden am 11. Juni. Ich hoffe und bete, dass euch dies etwas Frieden bringt." Die Giftspritze wurde ihm am 11. Juni 1998 verabreicht, um 18.21 Uhr war er tot. Dass er seine letzten Minuten äußerlich weitestgehend entspannt ertrug im Glauben an ein Leben nach dem Tod, sei ihm von den Hinterbliebenen seiner Opfer negativ ausgelegt geworden, erinnert sich Uhl: Der Vorwurf habe gelautet, "er habe die Sache nicht ernst genommen und überhaupt sei alles viel zu einfach gewesen". Ein Fernsehreporter erklärte, Boggess habe sich nie geändert und seinen charakterlichen Wandel lediglich gut vorgetäuscht, wie es typisch sei für Psychopathen.

Uhl weiß, wie wenig populär ihr Herzensanliegen ist, die Solidarität mit für verurteilten Schwerverbrechern: "Für arme Robbenbabys oder hungernde Kinder findet man leichter Mitstreiter", sagt sie. Und erinnert an Boggess' in der Zelle angefertigte Zeichnungen, die er als Vermächtnis verstand: "Ich möchte der Welt den Schmerz, die Isolation und die Grausamkeit des Todestrakts zeigen und wie es ist, hier zu leben. Und ich möchte zeigen, dass die Männer hier keine Tiere sind, sondern menschliche Wesen."

Menschliche Wesen, die von Amts wegen sterben sollen, als Strafe für Verbrechen, die sie meist begangen haben, manchmal aber eben auch nicht. Nach Jahren, die zu Jahrzehnten werden können, unter unwürdigsten Bedingungen in winzigen, kargen Einzelzellen, nie wissend, wie lange sie noch zu leben haben. Die zeit ihres verbleibenden Lebens häufig keinerlei Besuch bekommen, weil sich sämtliche Freunde und Verwandte von ihnen abwenden. Denen in diesem Fall, weil Telefone verboten sind und E-Mail sowieso, auch die letzte Möglichkeit zur Kommunikation mit denen da draußen genommen ist.

Und denen es aus all diesen Gründen die Welt bedeuten würde, wenn ihnen jemand einen Brief schriebe.

Jemand wie Cordula Cebulla, die erkannt hat: "Was für ihn unbezahlbar ist, kostet mich so wenig Aufwand — und wir haben beide etwas davon." Ihre Briefe schreibt sie, ganz Kopfmensch, meist am Computer, um Zeit zu sparen. Zeit, die sie in den Inhalt investiert. Darüber denkt sie beim Fernsehen nach, beim Sport, an der Supermarktkasse. Wann immer es passt halt, ohne Zwang. Aber nach maximal zwei Tagen antwortet sie. Jeder Brief ist ja noch eine Woche unterwegs, mindestens. Manchmal ist der Umschlag bunt oder ein Foto steckt darin. Bevor sie in den Urlaub fährt, sagt sie Bescheid, damit er sich weder Sorgen macht noch unnötig wartet. Und meldet sich sofort, wenn sie zurück ist. Spätestens. Manchmal schreibt sie auch eine Postkarte. Ihn macht das nicht wehmütig, das haben sie abgeklärt. Im Gegenteil, er dürstet nach Bildern, Farben, Geräuschen, Düften für die Welt in seinem Kopf.

14 Monate nach Beginn der Brieffreundschaft wird auch Cebullas Umfeld warm mit der Idee. "Meine Mutter war ganz gerührt, als er ihr einmal Grüße ausrichten ließ — ohne sich einschleimen zu wollen. Er wusste überhaupt nicht, dass sie unsere Brieffreundschaft sehr skeptisch gesehen hatte." Seitdem lässt ihre Mutter stets herzlich zurückgrüßen. 50 Briefe sind inzwischen ausgetauscht, die 25 von ihm bewahrt Cordula Cebulla in einem Schuhkarton auf. Es sollen noch viele folgen. Ihm und sich selbst hat sie versprochen, dass sie den Kontakt nicht abreißen lassen wird, solange er lebt.

(tojo)
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