Erfahrungsbericht eines Vaters Mein Sohn — der Inklusions-Pionier

Düsseldorf · Immer mehr behinderte Kinder lernen gemeinsam mit nicht behinderten. Bis dahin war es ein langer Weg. An dessen Ende aber steht die Erkenntnis: Inklusion kann funktionieren. Der Erfahrungsbericht eines Vaters.

 Papa Ludger Peters und Sohn Julian.

Papa Ludger Peters und Sohn Julian.

Foto: Franz Heinrich Busch

Die Hebamme hätte gerne gehabt, dass Julian am Muttertag geboren worden wäre. Als Sonntagskind. Doch hielt ihn um 23.46 Uhr am Samstag, 7. Mai 1988, nichts mehr. Mit aller Macht wollte er hinein ins Leben, das er so liebt und für uns bereichert. Die Freude war groß über den kerngesunden kleinen Kerl; der sechsjährige Philipp hatte nun einen Bruder.

Zwei Tage später wussten wir, dass Julian das Down-Syndrom hat. Meine Frau und ich haben kurz innegehalten und beschlossen, mit beiden Kindern unseren Weg zu gehen. Philipp durfte keine Nachteile erfahren, Julian keine ausgrenzende Sonderstellung haben. Manches war schwierig damals. Informationen, die uns weiterbrachten und nicht behinderten, erhielten wir über die "Stichting Down Syndrom" in den Niederlanden und über ein Projekt von Professorin Moira Pieterse an der Universität von Sydney.

In unserer deutschen Umgebung erfuhren wir vorwiegend, was angeblich nicht ging. Es war viel Unfug dabei.

"Ihr könnt das machen, wenn es die Stadt nichts kostet"

Wir überzeugten die Leiterin eines Kindergartens von dem Wunsch, behinderte und nicht behinderte Kinder in einer Gruppe aufzunehmen. Das war damals sehr selten. Im Kindergarten lernten wir andere Eltern kennen, die ebenfalls überzeugt sind, dass man Behinderte nicht unter der Vorspiegelung einer besseren Förderung aussortieren sollte.

Gemeinsam suchten wir Eltern ab 1994 eine Schule, die unsere Kinder aufnahm. "Ihr könnt das machen, wenn es die Stadt nichts kostet", sagte der Schuldezernent in Nettetal. Die Schulaufsicht sperrte sich lange. So gründeten wir den Verein "Kindertraum", nahmen 1995 an Beratungen über das Gesetz für den gemeinsamen Unterricht in der Primarstufe teil und starteten an der Gemeinschaftsgrundschule in Kaldenkirchen mit einer Integrationsklasse.

Den größten Ärger hatte der Schulleiter mit Eltern, deren nicht behinderte Kinder er nicht in die Integrationsklasse aufnahm. Nur drei Eltern von 65 Kindern lehnten allerdings schließlich die "I-Klasse" ab, in der sich ein wundervolles Lernklima entwickelte. Alle Kinder erwarben hohe soziale Kompetenz.

Im Jahr 2000 wechselten unsere Integrationspioniere an die Gesamtschule Nettetal, in eine "sonderpädagogische Fördergruppe" - eine Krücke im Umgang mit Behinderten im Schulwesen. Zum Glück rang sich der Gesetzgeber bald durch, den gemeinsamen Unterricht an weiterführenden Schulen einzuführen. Das ist Jahre her. Wer heute behauptet, ihm sei die Inklusion auf die Füße gefallen, hat 20 Jahre Schulentwicklung verschlafen. Oder den Kopf in den Sand gesteckt.

Der Verein "Kindertraum"

Die jammervollen Rahmenbedingungen überbrückt unser Verein mit Integrationshelfern. Eines ist an beiden Schulen hervorragend: die unbedingte Bereitschaft der Kollegien, den gemeinsamen Unterricht zum Erfolg zu machen. Natürlich wollten einige Lehrkräfte keinesfalls Unterricht in den I-Klassen geben. Aber niemand stellte sich in den Weg oder hintertrieb die Arbeit.

Im Gegenteil: Die Erfahrung im Umgang mit den unterschiedlich beeinträchtigten Schülern hat den Betrieb an beiden Schulen in vielfältiger Weise gefördert. Integration, inzwischen verändert in Inklusion, ist hier nur Thema, wenn Behörden vom grünen Tisch aus mal wieder Rahmenbedingungen verschlechtern. Ob es Sinn hat, eine Sonderpädagogin zur Inklusion stundenweise an eine andere Schule abzuordnen, wo sie Schwimmunterricht beaufsichtigt? Es gibt Dinge im Land, die kann ich nicht ernst nehmen.

Für uns endete Inklusion nicht mit Julians Entlassung aus der Schule. Er kam in eine Werkstatt und war nach zwei Wochen todunglücklich, wurde aufsässig und vereinsamte. Zum ersten Mal fühlte er sich als "behindert" stigmatisiert, weil dieser Unterschied dort systematisch gelebt wird. Konflikte häuften sich, wir verzweifelten beinahe.

Doch führten wir erfolgreich am Sozialgericht einen Prozess gegen die Arbeitsagentur und erreichten nach einem Jahr, dass Julian einen Arbeitsplatz in der Jugendherberge Hinsbeck erhielt. Dort arbeitet er bis heute. "Kindertraum" betreut und fördert inzwischen 20 Menschen mit Behinderungen auf Arbeitsplätzen außerhalb der Werkstatt. Der Verein stützt Inklusion an drei Schulen, ist Träger einer Offenen Ganztagsgrundschule und beschäftigt fast 30 Mitarbeiter.

"Wir lieben ihn über alles. So, wie er ist"

Ich könnte berichten, wie wir auf unserem Weg behindert wurden — und auch heute oft Kopfschütteln ernten. Meine Frau hat mich nach einem Gespräch mit einem "Experten" in Behindertenarbeit einmal gefragt: "Sag mal, meint der, dass nicht nur Julian, sondern auch wir behindert sind?" Der sorglose Drang, für uns zu denken, uns zu bevormunden, ist in diesen Kreisen verbreitet. Besserwisserei (man hat das schließlich studiert) und Abwimmelei ("Das haben wir noch nie so gemacht") sind wir immer wieder begegnet.

Das waren 26 Jahre, in denen wir jeden Tag, rund um die Uhr, für unseren Julian gesorgt und gearbeitet haben. Wir haben unser ganzes Leben für ihn Verantwortung, weil wir es wollen. Das ist mehr als acht Stunden eines beruflichen Alltags. Viele Inklusions-Skeptiker beklagen, sie hätten den Umgang mit behinderten Menschen nicht gelernt. Wir Eltern auch nicht. Wir konnten und wollten dieser "Zumutung" nicht ausweichen. Beruflich sieht das anders aus — jeder kann den Arbeitsplatz oder den Beruf wechseln.

Für uns gilt das nicht. Julian wäre immer da, und er wird immer da sein. Wir lieben ihn über alles. So, wie er ist. Er sollte nie anders sein.

(RP)
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