Lehrer über Gewalt an NRW-Schulen "So ein Schlag ins Gesicht, das ist doch nichts Schlimmes"

Düsseldorf · Nach dem tödlichen Messerangriff auf einen 14-jährigen Schüler sitzt der Schock noch immer tief - nicht nur in Lünen. Wie groß ist das Gewaltproblem an unseren Schulen wirklich? Das wollten wir von fünf Lehrern aus NRW wissen.

 Auseinandersetzung unter Jugendlichen (Symbolbild)

Auseinandersetzung unter Jugendlichen (Symbolbild)

Foto: Shutterstock/golubovystock

Sebastian Kleinschmidt*, Gymnasium in Düsseldorf
"Körperliche Gewalt spielt an unserer Schule Gott sei Dank keine große Rolle. Wenn Formen von Gewalt auftreten, handelt es sich oft um seelische Verletzungen. Vor allem Cybermobbing hat in den vergangenen Jahren stark zugenommen. Dabei liegen die Ursachen meiner Meinung nach in der fehlenden Aufklärung der Schüler und teilweise auch der Eltern, die nicht wissen oder wissen wollen, was ihre Kinder online machen.

Viele können nicht einschätzen, wie man sich online verhält, was akzeptabel ist und was eine Grenzüberschreitung darstellt. Für viele Schüler und Erwachsene scheinen im Internet andere oder keine Regeln zu gelten. Ohne das Vorbild, das Eltern für ihre Kinder abgeben, werden Lehrer allein die Probleme von körperlicher und seelischer Gewalt nicht bewältigen können. Aber auch die Einführung eines Fachs wie "Kritische Medienkunde” ist längst überfällig.

Dass Schüler sich bewaffnen, wie gerade in Lünen geschehen, wird meiner Meinung nach die Ausnahme bleiben. Zudem halte ich nichts davon, Kinder als 'nicht beschulbar' abzustempeln. Jedes Kind ist beschulbar."

Manuel Remmers*, Gesamtschule im Kreis Viersen
"Unser Ort hat eher dörflichen Charakter. Vielleicht ist das der Grund, warum Gewalt an unserer Schule zwar immer wieder Thema ist, aber nicht in dem Maße, wie man es manchmal in den Medien mitbekommt. Es gibt natürlich Schlägereien auf dem Schulhof, Auseinandersetzungen auf Klassenfahrten oder auch mal mit Jugendlichen von anderen Schulen. Wir haben auch schon Messer bei Schülern eingesammelt. Aber einen Angriff mit einer Waffe, so wie jetzt in Lünen, hatten wir bislang nicht.

Grenzwertig wird es, wenn man als Lehrer alleine die Aufsicht auf dem Pausenhof führt. Normalerweise soll das nicht so sein, aber wenn Kollegen krank sind, ist es manchmal nicht zu vermeiden. Ein Lehrer ist dann zuständig für ein Areal von drei Fußballfeldern, und auf diesem Gelände laufen mehrere hundert Schulkinder herum. Wie soll das gehen? Du stehst mit einem Bein im Gefängnis, wenn was passiert — denn du bist als Aufsicht ja in der Verantwortung. Manchmal bringt man einen Schüler mit blutiger Nase in den Sanitätsraum, kommt zurück auf den Hof und kann direkt den nächsten Kandidaten zum Verarzten mitnehmen.

Körperlich geht es vor allem bei den Kleinen zu, den Fünftklässlern. Die rangeln viel und schubsen. Bei den Älteren haben wir andere Probleme. Die filmen oder fotografieren andere mit dem Handy auf dem Klo oder machen sich gegenseitig per WhatsApp fertig. Cyberbullying ist ein großes Thema, und das ist ja auch eine Form von Gewalt.

Was körperliche Angriffe angeht, sind Förderschüler immer mal wieder ein Problem. Weil sie nicht berechenbar sind. Die kommen in der 5. Klasse zu uns, du weißt bei vielen als Lehrer aber nicht, mit welcher Art von Förderbedarf du zu tun hast. Einer rannte mal mit einem spitzen Gegenstand hinter einem Mitschüler her und drohte: 'Ich stech dich ab!'. Dieser Junge hat die Schule jetzt verlassen, und zum Glück ist die Situation gut ausgegangen. Es hätte aber auch Schlimmeres passieren können. Viele Eltern wollen eben, dass ihr Kind auf eine Gesamtschule geht, obwohl ein anderer Schultyp angemessen wäre.

Grundsätzlich finde ich, dass das Thema Gewalt im Vergleich zu früher heftiger geworden ist. Die Hemmschwelle fällt bei ganz vielen Kindern und Jugendlichen, andere fertig zu machen — ganz egal, ob physisch oder psychisch. 'So ein Schlag ins Gesicht, das ist doch nichts Schlimmes', hat mir mal ein Junge gesagt. Der ging in die sechste Klasse."

Maria Lehmann*, Realschule in Köln
"Ich glaube, dass die direkte, körperliche Gewalt an Schulen nachlässt. Viel schlimmer finde ich die nonverbale Gewalt, die sich Schüler gegenseitig antun. Es gibt Klassen, da traut sich niemand mehr im Unterricht aufzuzeigen, weil jede Antwort sofort von bestimmten Mitschülern "kommentiert” wird. Das können Blicke sein, Schnalzgeräusche, Schnauben — dieser Art von Gewalt haben wir Lehrer kaum etwas entgegenzusetzen.

Meiner Meinung nach sorgt das dafür, dass viele Schüler hypersensibel sind. Da reicht dann schon ein Blick, und schon gehen die Kinder unter die Decke. Auch die schnelle Kommunikation durch Klassen-Chats und die Sozialen Netzwerke sind ein großes Problem. Wir hatten letztens den Fall, dass ein Mädchen ein sehr intimes Foto von sich gemacht hat, für einen ganz bestimmten Jungen. Das Bild hat natürlich die ganze Schule gesehen. Ein dummer Fehler. Aber das Internet vergisst nichts. Jeder Fehler wird für alle Ewigkeit archiviert.

Ich spreche manchmal gerne vom "Dschungel Schule”. Genau wie im Dschungel herrschen auch in der Schule andere Gesetze. Es ist wie im Rudel: 30 Kinder, die in viel zu kleinen Räumen aufeinander hocken, dazu die Lautstärke — da wird es irgendwann tierisch. Ich kann das gut verstehen. Lautstärke, Enge und Hetze machen nicht nur die Kinder dünnhäutig. Und wenn sich dann eine Situation hochschaukelt, kann man beobachten, dass Kinder sich sprichwörtlich bewaffnen. Das können ein Stift, Äste auf dem Schulhof oder eine Schere sein. Aus solchen Drohungen kann dann schnell böser Ernst werden."

Susanne Larsen*, Realschule im Rhein-Erft-Kreis
"Ich glaube nicht, dass es an Schulen heute häufiger zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kommt. Trotzdem geht es manchmal heftiger zu als früher. Die allgemeine Verrohung unserer Gesellschaft spielt dabei sicher eine Rolle. Da gibt es Schülerbanden, die sich zu Schlägereien verabreden und mit Schlagstöcken aufeinander losgehen. Sowas wird dann meist außerhalb des Schulgeländes ausgetragen. Und erst vergangene Woche habe ich einem Schüler ein Messer abgenommen. Ich weiß nicht, ob er vorhatte, es einzusetzen, aber die Tatsache an sich ist schon erschreckend. Was leider auch vorkommt: Schüler, die jüngeren Kindern Geld "abziehen", um sie einzuschüchtern und zu erpressen. Aber das sind Ausnahmen.

Schüler (14) in Lünen bei Dortmund von Mitschüler getötet
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Schüler an Gesamtschule in Lünen getötet

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Die Gewalt, der wir im Schulalltag begegnen, spielt sich vor allem in den sozialen Netzwerken ab. Cybermobbing ist leider an der Tagesordnung. Schüler und Lehrer werden heimlich gefilmt oder fotografiert, und dann gehen diese Aufnahmen an der ganzen Schule rum. Wir Lehrer versuchen dann nur noch, die Brände zu löschen.

Und leider sind häufig die Eltern das viel größere Problem als die Kinder. Man wundert sich manchmal, wie gut die Kinder noch zurechtkommen, wenn man sich die Elternhäuser anschaut. Immer wieder sitzen mir Eltern gegenüber, die zugeben, mit ihrem Kind überfordert zu sein. Gleichzeitig nimmt aber das Interesse an den eigenen Kindern immer mehr ab. Von den Lehrern wird dann erwartet, dass sie die Erziehungsarbeit übernehmen. "Die Schule müsste doch,... die Klassenlehrerin hat nicht, ... das ist die Aufgabe der Schule" — solche Sätze regen mich furchtbar auf. Wie sollen die Kinder einen vernünftigen Umgang miteinander lernen, wenn es ihnen die Eltern nicht vormachen? Ein Elternführerschein — das wäre manchmal wünschenswert.

Aber um das Bild nicht allzu düster zu zeichnen: Die positiven Beispiele überwiegen. Es gibt viele tolle Programme, mit denen Schulen das Thema Gewalt angehen können. Ein Beispiel ist die Streitschlichtung von Schülern für Schüler. Aber auch mit Projekten wie "Kurve kriegen" in Kooperation mit der Polizei oder "Schule ohne Rassismus — Schule mit Courage" können wir die Themen Gewaltfreiheit und soziales Miteinander im Schulprogramm verankern. Wenn ich drei Wünsche frei hätte, wären das: mehr Unterstützung durch Sozialarbeiter; kleinere Klassen und weniger Belastung an den Regelschulen durch Kinder mit Förderbedarf."

Doreen Pryjak*, Gesamtschule im Bergischen Land
"Zum Glück ist es hier noch nie vorgekommen, dass ein Schüler mit einer Waffe herumgelaufen wäre. Bewaffnete Auseinandersetzungen — sowas hatten wir noch nie. Klar gibt es Gewalt bei uns. Ich glaube aber, dass die meisten gewalttätigen Auseinandersetzungen ohnehin eher in der Freizeit stattfinden, und nicht in der Schule. Das ist vor allem bei den Älteren so.

Die Jugendlichen sind ja alle per Smartphone und per WhatsApp miteinander in Verbindung, Konflikte aus der Schule führen sie am Nachmittag weiter. Tags darauf treffen sich dann alle auf dem Pausenhof oder im Klassenzimmer wieder. Das ist für uns Lehrer oft nicht einfach, denn wie soll man damit umgehen? Die Schüler erzählen dir dann, dass es gestern eine Schlägerei gegeben hat. Dass der Soundso den Soundso gehauen hat, nach dem Unterricht.

Natürlich informieren wir die Eltern, wenn ein Kind Schwierigkeiten mit einem Mitschüler hat. Man muss aber auch sagen: Schüler, die zu Gewalt neigen, haben zuhause oft den entsprechenden Hintergrund, sind schlecht erzogen. Bei den Eltern fehlt dann oft die Einsicht; viele suchen die Schuld nicht bei ihrem Nachwuchs, sondern bei den Lehrern. In solchen Fällen ist es manchmal leichter, nur mit dem Schüler selbst zu reden, dass er sein Verhalten ändern muss — und die Eltern außen vor zu lassen."

Aufgezeichnet von Sarah Biere und Rainer Leurs

* alle Namen geändert

(bis, rls)
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