Initiativkreis Ruhr Neuer Aufbruch fürs Revier

Essen · Der mächtigste regionale Wirtschaftsclub, der Initiativkreis Ruhr, wagt einen neuen Anlauf zur Modernisierung des Reviers. Adressat ist nicht NRW-Landeschefin Kraft, sondern Vizekanzler Gabriel.

 Ein Containerschiff im Duisburger Hafen, dem größten Binnenhafen Europas, wird entladen.

Ein Containerschiff im Duisburger Hafen, dem größten Binnenhafen Europas, wird entladen.

Foto: dpa, Roland Weihrauch

Der Zeitpunkt ist bewusst gewählt. Mitten in die Feiern vom 25. Jahrestag des Mauerfalls platzt der Initiativkreis Ruhr mit einem neuen Forderungskatalog an den Bund. Nicht der noch immer zurückliegende Ostteil des Landes braucht mehr Hilfe, sondern das einstige Herz der deutschen Industrie, das Ruhrgebiet. Es hat den Wandel offenbar noch immer nicht geschafft.

"Starke Industrie braucht modernes Umfeld", überschreibt Deutschlands mächtigster Wirtschaftsclub sein Aktionspapier und untermauert es mit deftigen Warnungen. "Das industrielle Zentrum Deutschlands gerät in Gefahr, wenn Infrastruktur und Umfeld den modernen Anforderungen nicht mehr genügen und ganze Stadtviertel unter stetigem Niedergang leiden." Der Moderator des Initiativkreises, der Chef des Essener Chemiekonzerns Evonik, Klaus Engel, spricht klare Forderungen aus. "Intakte Verkehrswege und zeitgemäße Infrastruktur, moderne Stadtviertel und leistungsstarke Logistik sind Grundlagen für den wirtschaftlichen Erfolg. Hier muss die öffentliche Hand handeln."

Adressat des Brandbriefs ist nicht wie bisher immer das Land Nordrhein-Westfalen, dessen Finanzen ziemlich angespannt sind. Der Initiativkreis wendet sich direkt an den starken Mann der SPD, Sigmar Gabriel, der als Vizekanzler der großen Koalition in Berlin gleichzeitig das Wirtschaftsressort leitet. Mit ihm soll nach dem vorläufigen Abschluss des Aufbaus Ost nun die Modernisierung des Reviers zu einer nationalen Aufgabe gemacht werden.

Der Initiativkreis Ruhr, in dem 67 Groß- und Mittelunternehmen mit einem Umsatz von 630 Milliarden Euro zusammengeschlossen sind, will gemeinsam mit der Bundespolitik einen "Handlungsplan Ruhr" erstellen. Dabei geht es um Milliardeninvestitionen in Straßen und Brücken, die Umwandlung von Brachflächen zu Umschlagplätzen für den Gütertransport auf Schiffen und Lastwagen sowie die Sanierung heruntergekommener Stadtviertel.

Die Ruhrgebietsunternehmen wollen einen beträchtlichen Batzen von der Verkehrsinvestitionen, die der Bund künftig für den Straßenbau bereitstellt. Gerade für das Revier hat der Initiativkreis einen gewaltigen Fehlbedarf festgestellt. "Das Ruhrgebiet braucht dringend Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur", heißt es in dem Brandbrief, den Initiativkreis-Moderator Engel vor allem in Berlin, aber auch in Düsseldorf vorstellen will.

Die zweite Sorge der großen Ruhrgebietsunternehmen gilt dem Gütertransport. Ausgehend von seiner industriellen Vergangenheit ist das Revier heute ein gewaltiger Umschlagplatz für Waren, die über den Seehafen Rotterdam, den drittgrößten der Welt, nach Mittel- und Südeuropa fließen. "Wir brauchen Investitionen in eine international leistungsfähige Logistik", steht in dem Papier.

Schließlich will der Initiativkreis ein Sanierungsprogramm für vernachlässigte Stadtviertel anstoßen.

Mit dem Vorstoß bei Straßen, Logistik und Stadterneuerung wollen die Ruhrgebietsunternehmen den jahrzehntelangen Investitionsstau in westdeutschen Problemregionen auflösen. Der Initiativkreis träumt vom "neuen Ruhrgebiet", das seinen alten Platz als industrielles Wirtschaftszentrum Deutschlands wiedergewinnen soll. "Es ist Zeit, dass die Bedürfnisse weiterer Regionen in Westdeutschland wieder stärker in den Fokus rücken", verlangt Evonik-Chef Engel. Der Aufbau Ost, der mehr als zwei Billionen Euro gekostet hat, sei nun abgeschlossen. Ein starkes Ruhrgebiet sei "eine nationale Gemeinschaftsaufgabe".

Tatsächlich hat das Revier ähnlich wie die neuen Bundesländer einen dramatischen Wandel durchgemacht. Noch in den 70er Jahren arbeitete über die Hälfte der Beschäftigten im Ruhrgebiet in der Industrie. Jetzt sind es noch 26 Prozent. Die Zahl der Industriearbeiter sank im gleichen Zeitraum von 2,7 auf 1,8 Millionen. Das Revier verlor also rund 900 000 Industriejobs.

Ersatz war nur schwer zu bekommen. Trotzdem entstanden viele Dienstleistungs-Arbeitsplätze - in der Logistik, im Gesundheits- und Pflegesektor, im Handel oder der Immobilienwirtschaft. Auch neue Unternehmen zog es ins Ruhrgebiet. Ausgehend vom dichten Universitätsnetz gründeten zudem viele Absolventen ihre eigenen Start-ups. Städte wie Dortmund und Essen profitieren von diesem Gründerboom. Rund um die TU Dortmund entstanden viele Informatik- und Technologieunternehmen, ganz vorne der Software-Dienstleister Materna, bei dem inzwischen 1400 Mitarbeiter beschäftigt sind. Nur wenige Industrieunternehmen im Ruhrgebiet erreichen diese Größe.

Doch das reichte nicht. Denn die neuen Jobs sind weniger produktiv und werfen geringere Löhne ab als die alten Industriearbeitsplätze. So liegt das Ruhrgebiet mit einer Wirtschaftsleistung pro Kopf von 28 400 Euro deutlich hinter den anderen Regionen wie Rheinland oder Ost-Westfalen, von Bayern und Baden-Württemberg ganz zu schweigen. Dabei war das Ruhrgebiet einst die produktivste Region Deutschlands.

Immerhin holt das Revier auf. Städte wie Essen haben in der Vergangenheit als Dienstleistungsmetropolen und Konzernsitze einen gewalten Sprung nach vorne gemacht. Heute gehört die "heimliche Hauptstadt" des Ruhrgebiets mit über 81 000 Euro zu den produktivsten in der Bundesrepublik. Zugleich ist auch die Zahl der Erwerbstätigen in den vergangenen zehn Jahren um mehr als fünf Prozent gestiegen.

Es gibt also Lichtblicke, wenn auch nicht ausreichend. Dem Initiativkreis ist es zu wenig. Deshalb startet er den Aktionsplan für ein "neues Ruhrgebiet". Ob das einst so starke Revier aber wirklich abheben kann, ist offen. Die neuen Bundesländer haben zwar gewaltig aufgeholt. Der Abstand zum Westen ist aber in den vergangenen zehn Jahren praktisch gleich geblieben. Und noch immer beträgt der Abstand zum Westen rund 30 Jahre. Da liegt das Ruhrgebiet näher am Bundesschnitt. Doch der Abstand wird, wenn überhaupt, nur ganz langsam geringer. Auf die Ruhrgebietsunternehmen wartet also viel Arbeit.

(kes)
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