Hymne auf einen Fluss Warum die Niers mein Rhein ist

Wer nicht in der Region wohnt, hat noch nie von ihr gehört. Gerade deshalb ist die Niers der wichtigste Fluss des Niederrheins. Behauptet unser Autor und baut ihr ein viel zu pompöses Denkmal.

 Die Niers kurz vor Wachtendonk, wie unser Autor sie sieht — Foto-Filter sei Dank.

Die Niers kurz vor Wachtendonk, wie unser Autor sie sieht — Foto-Filter sei Dank.

Foto: Sebastian Dalkowski

Was ich über den Fluss zu erzählen habe, dem meine Liebe gilt, ist der volle Ernst. Zur Begeisterung nicht fähige Ironiker werden als dezenten Spott deuten, was ich genauso meine, wie es da steht. Wahrscheinlich meine ich es sogar noch mehr, als es da steht. Irgendwann versagen die Worte ja immer.

Ich stehe also auf dieser Wiese in Holland, paar Minuten hinter der Grenze, kurz vor Nimwegen, gegenüber selbstverständlich ein Campingplatz. Ich bin vierzig Kilometer durch den subtilen, aber stetigen Regen gefietst, die Socken sind feucht, die Welt ist grau, irgendein Dienstagmittag. Aber da ist auch dieser Fluss, der Niers heißt, und da fließt er auch schon in die Maas. Ich werde doch jetzt keine Gefühle kriegen, denke ich, und dann kriege ich auch schon Gefühle.

Klar, muss ich erklären.

Für die Niers ist der Niederrhein Herzland

Dass die Gegend, in der ich aufgewachsen bin, Niederrhein heißt, habe ich Jahrzehnte nicht hinterfragt. Hier fließt eben der Rhein, der Große, der Mächtige, bedichtet und besungen seit der Römerzeit. Aber dann fiel mir auf, was der Rhein in mir auslöste, wann immer ich ihn auf einer Brücke überquerte: nichts. Ich hätte ebenso gut über die Elbe fahren können oder die Donau. Hier Rhein, da raus. Das liegt daran, dass der Rhein in großen Teilen des Niederrheins nicht zum Alltag gehört, zum Beispiel in dem Teil, in dem ich wohnte. Im Kreis Wesel fließt er, okay, dann Rees, Emmerich und schon schlängelt er sich in die Niederlande davon.

Die Niers hingegen bleibt länger. Sie fließt durch den Kreis Viersen, und geradezu ewig durch den Kreis Kleve. Ich habe mir das schriftlich geben lassen: Wenn ich mit Niederrhein die Landkreise Wesel, Kleve und Viersen meine, macht die Niers am Niederrhein sieben Kilometer mehr als der Rhein, knapp 82.

Doch was sind schon Zahlen, die Niers verkörpert den Niederrhein. Der Rhein kommt mit seinen Hunderten Metern Breite aus der fernen Schweiz herangebraust, er kommt als fremder Koloss und spaltet die Landschaft ins Rechts- und Linksrheinische. Für die Niers aber ist der Niederrhein nicht bloß Transit-, sondern Herzland. Der außerhalb der Region beinahe unbekannte Fluss entspringt in einem Dorf bei Erkelenz, so eben noch Niederrhein, sie fügt sich ein in die Landschaft, anstatt sie zu dominieren und auseinanderzureißen, weil sie zwar breiter wird, aber nie Wasserstraße. Stets bleibt sie so beschaulich wie der Niederrhein selbst, ebenso gemächlich, halb so schnell wie der Rhein. Fließt nicht durch Köln, Düsseldorf oder Duisburg, bloß durch Mönchengladbach, Geldern, Kevelaer, Weeze, Goch. Und kaum hat die Niers den Niederrhein verlassen, endet sie auch schon in der Maas. Von ihren 113 Kilometern fließen bloß die letzten acht durch die Niederlande. Viel weiter kommen die Deutschen auch nicht, wenn sie am 1. Mai und Fronleichnam zum Einkaufen ins Nachbarland fahren.

Die Niers ist ein gemachter Fluss

Der Fluss geht wie die Gegend nicht mit ihrer Schönheit hausieren — was auch damit zu tun hat, dass die Niers teilweise gar nicht schön ist. Sie ist eben wie wir alle und wie alles hier: Erst auf den zweiten Blick, dritten, vierten Blick noch einen weiteren wert. Ein gewisser Wille gehört schon dazu, sich in diese Uferlandschaften zu verlieben, diese sandigen Wanderwege, die vollen Maisfelder, die abgeernteten Maisfelder, diese leeren Wiesen, aber da sind auch die Hybridpappeln, die hier eigentlich nicht heimisch sind, aber nun als typisch Niederrheinisch gelten. So flach ist es hier, dass man denkt, gleich müsse man wenigstens mit dem Meer belohnt werden, es kommt aber kein Meer.

Der Niederrhein ist keine Naturlandschaft, sondern, der Landwirtschaft sei Dank, eine Kulturlandschaft, und die Niers ist, sagt der Mann vom Niersverband, ein "erheblich veränderter Wasserkörper". Gemachter Fluss in gemachter Landschaft. Niersschleifen gibt es nicht. Was damit zu tun hat, dass die Niers in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stark begradigt worden ist, damit der menschliche Unrat schneller abfloss, damals beinahe ungeklärt. Die Niers war mehr oder weniger tot. Sie verlor sogar ihre Quelle, als der Grundwasserspiegel wegen des Braunkohletagebaus Garzweiler irgendwann zu stark sank. Seitdem führt der verantwortliche Energiekonzern einige Kilometer weiter künstlich Grundwasser zu, sonst gäbe es keinen Oberlauf mehr. In ein paar Jahren wird das frühere Quellgebiet im Tagebau verschwinden.

Die Kanalartigkeit verliert die Niers nur allmählich wieder. Seit den 90ern läuft die Renaturierung, die selbstverständlich ebenso gemacht ist. An einigen Stellen schlängelt sich die Niers nun wieder, darf wilder sein, was den Steinkauz freut und den Graureiher, den Aal und den Hecht. "Die Niers ist auf einem guten Weg", sagt Herr Kröfges vom BUND, und das ist aufgrund seiner Mehrdeutigkeit ein sehr schöner Satz.

Die Niers bewegt

Die Leute haben längst begriffen, dass die Niers nicht bloß ein Nebenfluss der Maas ist, schon in Gladbach, wo die Niers nicht mehr als ein Bach ist. An der Niers haben die Leute gute Laune, weil sie dort nicht entlanggehen, um zur Arbeit zu kommen, sondern um ihre Freizeit zu genießen. Die Familien, die Pärchen, die Kids und die Tätowierten, alle spazieren dort, fahren dort Rad, paddeln. Wer nicht mindestens einmal im Archäologischen Park Xanten war und auf der Niers gepaddelt ist, kommt auch nicht von hier.

Ich habe das auch nicht gewusst, aber das Tal, durch das die Niers fließt, hat einst der Rhein geschaffen. Dann hat er seinen Platz geräumt. Weil er wusste: Da gehört jemand anderes hin.

(seda)
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