Interview mit Frank Richter "Amri stand nie unter ständiger Polizeikontrolle"

Essen · Der Essener Polizeipräsident spricht im Interview mit unserer Redaktion über den vermeintlichen Anschlagsplan auf das Oberhausener Centro, "libanesische" Großfamilien in NRW sowie den Fall Amri.

 Seit 1976 ist der 56-jährige Frank Richter im Polizeidienst.

Seit 1976 ist der 56-jährige Frank Richter im Polizeidienst.

Foto: Hans-Juergen Bauer

Frank Richter ist anders als die meisten Polizeipräsidenten in Deutschland. Er weiß genau, wovon er spricht, wenn er die Probleme bei der Polizei beim Namen nennt. Das liegt daran, dass er Polizist durch und durch ist, während fast alle anderen seiner Amtskollgen keinen Stallgeruch wie er haben, weil sie in der Regel einen juristischen Hintergrund besitzen. Deshalb ist Richters Rat bundesweit auch so gefragt, wenn es um die Belange der Inneren Sicherheit in Deutschland geht.

Der Attentäter vom Berliner Weihnachtsmarkt Anis Amri hielt sich lange in Nordrhein-Westfalen auf. Ihre Behörde, das Polizeipräsidium Essen, hatte auch mit ihm zu tun, führte ihn als Gefährder.

Frank Richter Gefährder sind Personen, von denen wir der Meinung sind, dass sie im terroristischen Bereich gefährlich werden könnten, etwa einen Anschlag verüben könnten. Anis Amri war als Gefährder eingestuft. Diese Einstufung ist immer nur eine Prognose, die auf Erkenntnissen unterschiedlicher Dienststellen über die jeweilige Person basiert.

Kurz nach dem Anschlag in Berlin gab es einen Antiterroreinsatz im Oberhausener Einkaufszentrum Centro und Ingewahrsamnahmen mutmaßlicher Terroristen. Wie kam es dazu?

Richter Wir erhielten einen Hinweis des Verfassungsschutzes, dem wir sofort nachgegangen sind. Wir haben die Verdächtigen dann festgenommen und sorgfältig überprüft. Wir haben aber nichts Konkretes gegen sie gefunden. Deshalb ist uns letztlich nichts anderes übrig geblieben, als sie wieder auf freien Fuß zu setzen. Vage Verdachtsmomente allein reichen nun mal nicht aus, um jemanden in Deutschland in Haft nehmen zu können.

Das galt offenbar auch im Fall Anis Amri...

Richter Natürlich muss man sich nach dem Anschlag hinterfragen. Wie konnte das passieren? Mich stört aber die politische Debatte, die zum Teil von Forderungen geprägt ist, die mit der polizeilichen Realität überhaupt nichts zu tun haben. Zum Beispiel fordern manche eine 24-Stunden-Überwachung aller Gefährder durch die Polizei. Das ist aber überhaupt nicht möglich. So viele Polizisten gibt es gar nicht. Aber so etwas wird dann einfach in den Raum geworfen. Im Übrigen stand auch Amri nie unter ständiger Polizeikontrolle. Derzeit fokussiert sich auch alles auf die Gefährder. Völlig außer Acht gelassen werden dabei aber die sogenannten Unterstützer, die zum Beispiel den Terroristen Geld zukommen lassen, das sie nicht selten durch kriminelle Geschäfte verdienen. Auch die müssen wir im Blick haben. Ich wünsche mir daher mehr polizeilichen Sachverstand in der Diskussion um die Innere Sicherheit. Denn das ist kein Thema, mit dem man leichtfertig umgehen darf.

Das heißt für Sie?

Richter Meine Philosophie lautet: Alle Probleme deutlich und offen ansprechen. Man darf nicht den Mantel des Schweigens darüber legen. Es bringt nichts, den Bürgern zu sagen: Ihr braucht keine Angst haben. Man darf nichts beschönigen. Aber auch nichts dramatisieren und nicht übertreiben. Es muss sachlich und ehrlich darüber gesprochen werden.

Gibt es "No go Areas"?

Richter Wir haben Brennpunkte. Das ist so. Da gibt es auch nichts schönzureden. Es gibt Straßenzüge, wo sich manche Bürger nicht mehr sicher fühlen. Auch das ist richtig. Aber "No go Areas" gibt es nicht. Natürlich gibt es Bezirke, wo wir als Polizisten mit zwei statt mit einem Streifenwagen hineinfahren. Aber um es deutlich zu sagen: Es gibt keine Gegenden, in die sich die Polizei nicht hineintraut — und sie gab es auch nicht!

Was macht den Menschen Angst?

Richter Es sind vor allem die Einbrüche und die Straßenkriminalität, die die Bürger verunsichern. Ich werde häufig gefragt: Wann hat es angefangen, schlechter zu werden? Wann ist das gekippt? Ich sage dann immer: Ein Datum, einen Zeitpunkt, ein Jahr, an dem man das festmachen kann, gibt es nicht. Auch vor zwanzig, dreißig Jahren gab es problematische Viertel, in denen es etwas auf die "Mütze" gab, wenn man Pech hatte.

Aber die Bürger haben offenbar mehr Angst als früher...

Richter Das ist wahr. Wir stellen fest, dass manche ein nicht zu verifizierendes Unsicherheitsgefühl haben. Ein Beispiel: Wir haben einen Stadtteil, der überhaupt kein Kriminalitätsschwerpunkt ist. Dennoch haben sich Bürger von dort an uns gewandt, weil sie sich nicht mehr sicher fühlen. Wir haben dann unsere Präsenz in dem Viertel deutlich erhöht, um den Bürgern zu zeigen: Wir kümmern uns um euch. Das zeigt, dass das Sicherheitsgefühl immer relativ ist. Wir haben auch Stadtwachen, gehen in die Stadtteile und auf die Menschen zu. Wir versuchen, ganz nah dran zu sein an den Menschen, kommunizieren eng mit ihnen. Und das Wichtigste ist: Wir nehmen ihre Sorgen, Ängste und Nöte ernst. Das ist ein entscheidender Punkt. Die Menschen müssen spüren, dass die Polizei für sie da ist.

Essen ist neben Bremen und Berlin eine der Hochburgen der "Libanesen-Clans" in Deutschland.

Richter Bei uns in der Stadt leben etwa 5000 bis 6000 "Libanesen". In Wahrheit sind die meisten von denen aber keine wirklichen libanesischen Staatsbürger, sondern vor allem Türken und Kurden. Die erste Generation dieser Großfamilien, von denen wir in Essen über zwanzig haben, ist damals von der Türkei in den Libanon, als dort Bürgerkrieg herrschte, eingereist, um sich dort libanesische Pässe zu besorgen, an die während des Krieges leicht ranzukommen war. Mit diesen Ausweisen reisten sie dann in Deutschland ein. Weil im Libanon Krieg herrschte, schickte Deutschland keine Staatsbürger dorthin zurück.

Und jetzt bereiten diese Clans der Polizei Probleme...

Richter Ja, durchaus. Das ist eine feste Gemeinschaft, in die man von außen nicht reinkommt. Keine Möglichkeit. Über 50 Prozent der Männer dieser Familien sind bereits in irgendeiner Form polizeilich in Erscheinung getreten — etwa durch Körperverletzungen und Sozialbetrug. Obwohl diese Großfamilien feste Strukturen haben, kann man nicht von organisierter Kriminalität sprechen. Sie haben ihre eigenen Regeln. Aber wir als Polizei lassen so eine Parallelgesellschaft nicht zu. Auf die mangelnde Respektlosigkeit und das Machtgehabe (Was wollt ihr denn von uns?) haben sich unsere Polizisten mittlerweile eingestellt. Das ist Alltagsgeschäft.

Wie geht man gegen die vor? Was kann man machen?

Richter Mit Gefängnisstrafe drohen jedenfalls nicht. Das ist für die meisten wie eine Auszeichnung, eine Art Orden. Man muss denen ans Geld gehen. Das tut denen weh. Deshalb gehen wir gemeinsam mit Steuerfahndung, Zoll und Stadt bei Kontrollen gegen diese Clans vor. Die Finanzbehörden dürfen fragen: Wo habt ihr das Geld her? Wir als Polizei haben diese Möglichkeit so nicht. Dabei gehen wir auch unkonventionelle Wege. So haben wir beispielsweise mit dem Zoll oder der Feuerwehr mehrere gemeinsame Einsätze durchgeführt, die zur Sicherstellung großer Mengen Tabaks oder auch zur Schließung einer Shisha-Bar führten.

Auch andere Ruhrgebietsstädte wie Duisburg haben mit "libanesischen" Großfamilien zu kämpfen.

Richter Die Kommunen, die das Problem haben, arbeiten eng zusammen. Wir tauschen uns aus. So haben wir etwa ein gemeinsames System, in dem die zuständigen Fachkommissariate die Informationen einspeisen und auf das dann alle Zugriff haben. Dadurch ergibt sich ein Lagebild.

Einer ihrer Schwerpunkte ist der Kampf gegen Einbrecher. In Essen gab es im vergangenen Jahr 20 Prozent weniger Einbrüche. Was machen sie besser als andere Städte?

Richter Auch dieser Erfolg ist auf Bürgernähe zurückzuführen. 60 bis 70 Prozent der Täter, die wir auf frischer Tat fassen konnten, haben wir nur bekommen, weil Anwohner uns benachrichtigt haben. Darum ist es extrem wichtig, dass alle im Verdachtsfall sofort die 110 wählen. Wir kommen dann. Auch jedes Einbruchsopfer wird von uns aufgesucht. Wir wollen sie mit ihren Ängsten nicht alleine lassen.

Die Zahl der versuchten Einbrüche nimmt zu...

Richter Das liegt daran, dass die Menschen ihre Wohnungen immer besser schützen. Die reisenden Banden brechen ab, wenn sie nicht innerhalb einer Minute in Haus gekommen sind. Aber ich würde mir wünschen, dass es bei Neubauten und Renovierungen endlich eine gesetzliche Verpflichtung gibt, einbruchssichere Fenster und Türen einbauenzumüssen.

Christian Schwerdtfeger führte das Interview.

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