Renaissance der Alarm-Sirene in NRW Heul doch!

Düsseldorf · Früher gab es flächendeckend Alarmsirenen in NRW – für die Menschen gehörte der regelmäßige Probealarm zum Leben dazu. Dann endete der Kalte Krieg und mit ihm die Zeit der Heuler auf dem Dach. Jetzt entdecken Katastrophenschützer das Potenzial der Sirenen von Neuem.

 Manche halten Sirenen für ein Relikt des Kalten Krieges — Experten halten sie für unersetzbar.

Manche halten Sirenen für ein Relikt des Kalten Krieges — Experten halten sie für unersetzbar.

Foto: Janicki

Früher gab es flächendeckend Alarmsirenen in NRW — für die Menschen gehörte der regelmäßige Probealarm zum Leben dazu. Dann endete der Kalte Krieg und mit ihm die Zeit der Heuler auf dem Dach. Jetzt entdecken Katastrophenschützer das Potenzial der Sirenen von Neuem.

Um fünf Uhr in der Früh begann für die Feuerwehr Duisburg der Kampf gegen die Flammen. In einem Papierlager war in der Nacht auf Montag Verpackungsmaterial in Brand geraten, eine Rauchwolke zog über die Stadt. Ob sie gefährlich war, womöglich giftig, wusste da noch niemand. Vorsorglich evakuierte die Feuerwehr Häuser in der Nachbarschaft und warnte die Anwohner angrenzender Stadtteile: per Sirene. Zwischenzeitlich gab es Kritik in den sozialen Medien, weil der Alarm verspätet ausgelöst wurde und nicht überall zu hören gewesen sein soll. Laut Duisburger Feuerwehr lag das jedoch schlicht und ergreifend daran, dass die Verantwortlichen zunächst die aufsteigende Rauchwolke beobachten mussten. Erst als die Zugrichtung der Wolke klar war, wurde lediglichen im betroffenen Stadgebiet, nämlich im Duisburger Westen, Sirenenalarm ausgelöst.

Nicht überall wäre das möglich, denn ein Viertel der Städte in Nordrhein-Westfalen hat keine Alarmsirenen mehr. In Neuss, Grevenbroich, aber auch in Ballungsräumen wie Essen oder Dortmund bliebe es im Gefahrenfall still. Aktuell sind laut Sirenenkataster des Innenministeriums NRW insgesamt 105 Gemeinden sirenenlos.

Warum die Sirenen verschwanden

Bis 1993 unterhielt der Bund für Zivilschutz ein Sirenennetz mit 80.000 Standorten. Das schien nach dem Ende des Kalten Krieges jedoch nicht mehr nötig. Deshalb bot er den Gemeinden das Sirenensystem zur Übernahme an. Doch die Kosten für die Instandhaltung und das Betreiben der alten Anlagen waren für viele ohnehin klamme Kommunen zu hoch. In der Folge wurden die meisten der Warnanlagen von den Dächern geschraubt. Mit ihnen ging oft auch die zugehörige Infrastruktur verloren: Warnämter und Sirenensteuernetze.

Seitdem hat sich im Katastrophenschutz viel getan. Die Städte warnen mit Apps direkt auf dem Smartphone, und sogenannte "Black-Sites" können bei Bedarf online gestellt werden. Anders in Duisburg, wo in der besagten Brandnacht ein einminütiger an- und abschwellender Warnton die Bevölkerung aus dem Schlaf riss. Trotz moderner Warnwege installierte die Stadt in den letzten Jahren flächendeckend Sirenen. "Sie sind unser wichtigstes Warnmittel", sagt gar Oliver Klostermann, Leiter der Stabsabteilung Bevölkerungsschutz der Stadt Duisburg.

Warum Sirenen nicht zum alten Eisen gehören

Auch Markus Pfenning, zuständig für den Bevölkerungsschutz der Düsseldorfer Feuerwehr, stimmt zu: "Sirenen sind vor allem nachts unschlagbar. Kein System kann dann so effektiv warnen wie sie. Das Handy hingegen nehmen viele nicht mit ins Schlafzimmer oder machen es nachts aus." Als problematisch gilt zudem, dass vor allem ältere Menschen am Handy scheitern könnten. Der Dortmunder Feuerwehrsprecher André Lüddecke schätzt außerdem die schnelle Überlastung der Mobilfunknetze als kritisch ein: "Wenn mehr als 80.000 Menschen im Signal-Iduna-Park beim Fußball jubeln oder tausende Fans auf dem Friedensplatz beim Public Viewing sind, bekommt man eine Einschätzung davon, was in einer Krisensituation mit den Netzen wäre: Sie wären überlastet".

In einem Viertel der Städte in NRW fehlen trotzdem die Sirenen. In Dortmund beispielsweise wäre auch eine Information über die vom Land betriebene Gefahren-Warn-App "NINA" nicht möglich. "Wir haben noch keine Anbindung an das System", sagt Lüddecke. Darum bleibt der Feuerwehr dort derzeit nichts anderes übrig, als im Gefahrenfall "im Feuerwehrauto durch die Straßen zu fahren und Lautsprecherdurchsagen zu machen". Im Ernstfall binde das Kräfte.

Und es gibt noch einen Aspekt, bei dem sich die Katastrophenexperten einig sind: Sirenen sind weniger störanfällig. Selbst wenn der Strom ausfällt und das Handynetz zusammenbricht und damit die digitale Welt zum Erliegen kommt: "Sirenen verfügen über einen extra gesicherten Stromkreis, der teils über Generatorenbetrieb aufrecht erhalten werden kann oder über Akkus verfügt", sagt Thomas Kähler von der Leitstelle des Kreises Heinsberg.

"Großfeuer, Hochwasser, Zugunfälle oder Orkane können plötzlich und jederzeit auftreten, im Ernstfall müssen wir schnell reagieren können. Am schnellsten geht das mit Sirenen", heißt es aus dem NRW-Innenministerium .

Warnen im Ernstfall — Verpflichtung liegt bei Kommunen

Nun unternehmen die Kommunen größte Anstrengungen, um das altmodisch wirkende, aber hocheffektive Sirenenwarnsystem wieder flächendeckend zu installieren. Dabei unterstützt sie das Land NRW finanziell. Zumal seit dem 1. Januar 2016 die Kommunen gemeinsam mit ihren kreisangehörigen Gemeinden gesetzlich für die Warnung der Bevölkerung verantwortlich sind. "Zuvor war diese Aufgabe nicht ausdrücklich erwähnt, weil sie als Teil der allgemeinen Aufgaben der Gemeinden und Kreise im Brandschutz beziehungsweise bei Großschadensereignissen gesehen wurde", heißt es dazu aus dem Innenministerium. Mit dem neuen Gesetz sei die Zuständigkeit "nur ausdrücklich klargestellt worden".

Damit liegt die Verpflichtung, im Ernstfall "möglichst die gesamte Bevölkerung zu erreichen", zweifelsfrei bei den Kommunen, so geht aus einem Arbeitspapier der Arbeitsgruppe Zivil- und Katastrophenschutz der Arbeitsgemeinschaft der Leiter der Berufsfeuerwehren hervor. "Dazu ist es erforderlich, auch die Personen aufmerksam zu machen, welche die Gefährdung nicht wahrgenommen haben oder nicht wahrnehmen können, zum Beispiel Personen im Schlaf", heißt es dort weiter: "Ein umfassendes Wecksystem ist ohne Sirenen nicht darstellbar."

In Duisburg hat man deshalb in den letzten Jahren 75 neue Sirenen über das Stadtgebiet verteilt — und zugleich ein ganz neues Problem geschaffen. "Früher kannte man die drei Warnsignale der Sirenen. Aber heute wissen viele Menschen nicht mehr, was diese Signale bedeuten", sagt Gerrit Möws vom Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BKK). Alte Menschen hingegen sind mit den Signalen aus Kriegs- und Nachkriegszeit vertraut.

Das bedeuten Sirenensignale

Insgesamt gibt es drei Sirenensignale mit unterschiedlicher Bedeutung:

Ähnliche Situation: Großbrand in Krefeld zeigt Schwachpunkte

Welche Schwachstellen ein Warnsystem ohne Heuler hat, zeigte sich an einem anderen Großbrand. 2012 brannte der Betrieb eines Düngemittelherstellers in Krefeld. Dabei entstand eine Schadstoffwolke. Die Feuerwehr in Krefeld warnte die Bevölkerung auf diversen Wegen und gab auch per Sirene ein Warnsignal.

Anwohner aus Duisburg hingegen beschwerten sich, dass sie nicht frühzeitig über Sirenen vor der Giftwolke gewarnt wurden. Der Krisenstab ließ dazu im Nachgang wissen, dass über die Radiosender, per Lautsprecherdurchsage und über die sozialen Medien ein Großteil der Bevölkerung erreicht worden sei. Das Sirenenwarnsystem hingegen sei noch nicht vollständig ausgebaut gewesen.

"Die Erfahrungen der letzten Jahre in Bezug auf großflächige Gefährdungslagen — zuletzt der Brand eines Düngemittelherstellers in Krefeld 2012 — gaben Anlass, deutschlandweit über die Wiedereinführung von Sirenen nachzudenken", so steht es in der Beratungsvorlage, die die Stadt Essen im Jahr 2015 im Stadtrat behandelte.

Die Anschaffungs- und Instandhaltungskosten der Sirenen jedoch machen vielen Kommunen zu schaffen. Die Stadt Duisburg griff deswegen zu einem ungewöhnlichen Finanzierungsmodell und ließ die Hälfte der Heuler von der Industrie sponsern. Die Idee kam durch den Vorschlag des Krefelder Bayer-Werks, das auch das Krefelder Sirenensystem mitfinanziert hatte. "Da es auch an Duisburger Stadtgebiet angrenzt, brachte das Unternehmen auch hier den Ball ins Rollen", sagt Oliver Klostermann, Leiter der Stabsabteilung Bevölkerungsschutz in Duisburg. Auch die Stadt Essen versucht nun dieses Modell zu übernehmen. "Ich könnte mir Unterstützung von Störfallbetrieben ebenso wie von mittelständischen Unternehmen vorstellen, sagt der Essener Brandschutz-Dezernent Christian Kromberg. Er setzt darum derzeit alle Hebel in Bewegung, um den sirenenlosen Zustand zu ändern. "Wir wollen noch in diesem Jahr die erste Sirene aufstellen", sagt er.

(wat)
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