NRW-Studie Viele Opfer durch Rituelle Gewalt

NRW-Studie · Bisher gab es keine Angaben über Opferzahlen ritueller Gewalt. Diese Lücke hat jetzt ein Arbeitskreis aus Witten geschlossen. Er hat in einer Umfrage aufgezeigt, dass jeder achte Therapeut schon Sektenaussteiger behandelt hat. Eine Betroffene erzählt, was ihr wiederfahren ist.

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Foto: AP

Münster Jeder achte Psychotherapeut zwischen Düsseldorf und Münster hat schon mindestens einmal ein Opfer ritueller Gewalt behandelt. Das ist das Ergebnis einer vom Arbeitskreis "rituelle Gewalt" aus Witten veranstalteten Umfrage unter insgesamt 1950 Therapeuten.

Ziel der Studie war es, zuverlässige Daten über Opferzahlen zu bekommen. Das Resultat erstaunt sogar die Experten. So beantworteten 965 Therapeuten den Fragebogen, 126 gaben an, im Laufe ihres Berufslebens mit dem Thema konfrontriert worden zu sein.

"Ich habe damit gerechnet, dass es viele Opfer ritueller Gewalt gibt, dass es aber so viele sind, das ist erschreckend", sagt die katholische Sektenbeauftragte Brigitte Hahn, die die Studienzahlen nur als "die Spitze des Eisbergs" betrachtet. Denn: "Die meisten Opfer bleiben in den Fängen der Sekte und schweigen. Ihre Geschichte kommt nie an die Öffentlichkeit."

Eine, die es gewagt hat auszusteigen und ihre Geschichte zu erzählen, ist Claudia S. (Name geändert). Die 40-Jährige wurde durch ihre Eltern in einen Satanskult gezwungen. Eine Wahl hatte sie nie. "Meine Mutter nahm mich mit zu einer ,Messe'", erinnert sich Claudia S. Damals war sie gerade fünf Jahre alt — ein Alter, in dem Kinder normalerweise ausgelassen spielen.

Claudia S. durfte es nicht. "Satan möchte keine Freude, er möchte Leid, Schmerzen und Gewalt", weiß die Aussteigerin. Seit der so genannten "Einführung" in die Sekte — einem perversen Ritual, bei dem das neue Mitglied geschlagen und sexuell misshandelt wird — wurde das Kind nicht nur körperlich misshandelt, die Sektenmitglieder übten auch psychischen Terror auf das junge Mädchen aus. So verlangten sie mehrmals, dass sich Claudia S. selbst umbringt.

"Ich habe schon mehrere Selbstmord-Versuche hinter mir. Zum Glück konnte ich immer gerettet werden", sagt sie. Doch die körperlichen und psychischen Misshandlungen sind nicht spurlos an der jungen Frau vorbeigegangen. Über die Jahre hinweg hat sie diverse Persönlichkeiten entwickelt, "sonst hätte ich die Abartigkeiten nicht ertragen", ist sich die 40-Jährige heute sicher.

Dass sie es überhaupt geschafft hat, die Satans-Sekte zu verlassen, verdankt sie einem der schlimmsten Erlebnisse ihres Lebens. Nach andauernden Vergewaltigungen wurde sie mit zwölf schwanger. Die Sekte verlangte, das Kind abzutreiben — oder nach der Geburt zu opfern. Ihre Eltern entschieden sich für eine Abtreibung. Womit sie nicht gerechnet haben: Bei dem Abbruch kam es zu Komplikationen, so dass Claudia S. ins Krankenhaus eingewiesen werden musste.

Dort schöpften die Ärzte Verdacht. Claudia S. wurde von ihren Eltern isoliert, bekam psychologische Betreuung. Ein Rechtsanwalt schaffte es schließlich, sie in eine andere Stadt zu bringen, wo das Mädchen ein neues Leben begann. Ihr erster Schritt in der Freiheit: Sie verklagte die Satanssekte, die sie bis dahin fast zehn Jahre lang misshandelt hatte.

Doch das Vorhaben misslingt. "Damals wusste niemand — nicht mal ich selbst — dass ich eine multiple Persönlichkeitsstörung habe. Weil in den Vernehmungen mal die eine, mal die andere Person ausgesagt hat, wurde mir nicht geglaubt", erklärt die Aussteigerin traurig. Am Ende der Verhöre stand sie selbst am Pranger — wegen Verleumdung. Erst als ein Psychiater ihr mit 14 Jahren Schizophrenie diagnostizierte, konnten Klagen abgewendet werden.

Wie problematisch der juristische Umgang mit Opfern ritueller Gewalt ist, weiß auch Birgit Dienstbier. Die Kriminalhauptkommisarin aus Bochum ist zuständig für sexuellen Missbrauch und ebenfalls Mitglied im Wittener Arbeitskreis. "Bei der Polizei gibt es niemanden, der auf das Thema rituelle Gewalt spezialisiert ist", sagt Dienstbier. Weil sich niemand mit den Problemen der Betroffenen auskenne, werden sie von der Justiz oft als unglaubwürdig eingestuft. "Deshalb kommt es auch in der Regel zu keiner Strafverfolgung."

Auch Claudia S. Peiniger sind weiter auf freiem Fuß. "Und ich bin mir sicher, dass sie ihre Perversitäten mit anderen Kindern genauso fortsetzen", sagt sie traurig. Von einer erneuten Klage sieht sie aber ab: "Ich werde endlich von meiner Familie und den anderen Sektenmitgliedern in Ruhe gelassen", erklärt das Opfer und fügt ganz leise hinzu: "Da ich jetzt auch selbst Kinder habe, möchte ich, dass es auch so bleibt."

(RP)
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