Aktivisten im Hambacher Forst "Bis zum letzten Baum"

Aachen/Düren · Im Hambacher Forst herrscht Ausnahmezustand. Täglich patrouillieren Polizisten, um RWE-Mitarbeiter vor Übergriffen von Aktivisten zu schützen. Diese wollen die Abholzung für den Tagebau stoppen. Ein Einblick in die Situation vor Ort.

Die Aktivisten im Hambacher Forst
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Die Aktivisten im Hambacher Forst

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Foto: Bretz, Andreas

Beim Thema Braunkohle ist Clumsy auf dem Baum. Buchstäblich und in schwindelerregender Höhe. Aus 16 Metern lässt der 28-Jährige ein schwarzes Seil hinab, hakt seine Karabiner ein und saust nach unten. Häufig hat er die Stieleiche mit dem Namen "Mona" in den vergangenen Monaten nicht verlassen. Dort oben, in seinem selbst gebauten Baumhaus, fühlt er sich sicher — obwohl um ihn herum Kettensägen kreischen und mit jedem Tag näher heranrücken. Denn auf dem Baum ist Clumsy — zumindest derzeit noch — unerreichbar für die Polizei.

Clumsy ist einer von rund 30 bis 40 Braunkohle-Gegnern, die im und am Hambacher Forst (Kreis Düren und Rhein-Erft-Kreis) leben. Wie viele es tatsächlich sind, weiß niemand genau. Die Fluktuation im Camp ist hoch. Manche bleiben ein paar Wochen, andere Monate, und einige kommen nur zur Rodungssaison im Winter, um Bäume zu besetzen. Die Aktivisten stammen aus ganz Deutschland, aber auch Italien, Spanien, Finnland, Großbritannien und Frankreich. Clumsy, der anders heißt, ist aus Österreich angereist, um gegen den Braunkohletagebau des Energieunternehmens RWE und die Abholzung zu demonstrieren. Mehr als vier Jahre ist das inzwischen her.

"Sie haben uns mit Hebebühnen von den Bäumen geholt"

Der Weg zu Clumsy und seiner Eiche führt mitten durch das Unterholz. Wege gibt es hier nicht mehr. Ewas tiefer im Wald tauchen mehrere schwarz vermummte Personen auf. Man bekommt ein mulmiges Gefühl, zum Glück geht es in eine andere Richtung weiter. Die L 276, die entlang des Forsts zum Tagebau führt, ist längst außer Sichtweite. Dann liegt "Oaktown" vor uns — eine Ansammlung von fünf Baumhäusern, über Seile und Strickleitern miteinander verbunden.

Dort lebt Clumsy, blaue Augen, grüne Wollmütze und Bundeswehrparka. Der ehemalige Rettungssanitäter hat die erste Waldbesetzung im April 2012 erlebt und die Räumung im darauffolgenden November. Bei der Erinnerung daran wird seine Stimme leiser. "Sie haben uns mit Hebebühnen von den Bäumen geholt", sagt der junge Mann und senkt den Blick. Dabei hat er Erfahrung mit brenzligen Situationen: Zwölfmal ist er als Aktivist festgenommen worden, in Deutschland, in England und in Frankreich. Zwei Monate saß er in Untersuchungshaft, weil er sich bei Protesten in der Lausitz an ein Gleis gekettet hatte.

Proteste gegen Waldrodung im Hambacher Forst
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Proteste gegen Waldrodung im Hambacher Forst 2016

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Foto: dpa, mg

Mit den gewalttätigen Übergriffen auf RWE-Mitarbeiter und Polizisten will er nichts zu tun haben: "Kein Lebewesen soll zu Schaden kommen." Außerdem: "Sie sind viele und haben Waffen", sagt er über die Polizisten. Wenn möglich, gehe er ihnen aus dem Weg oder bleibe auf seinem Baum. Momentan sind die Einsatzkräfte den ganzen Tag vor Ort, fahren regelmäßig mit ihren Bullis durch den Wald. Sie haben die Aktivisten im Blick.

Jeder der besetzten Bäume hat einen Namen

Das Camp der Braunkohle-Gegner ist zweigeteilt. Das sogenannte Wiesencamp grenzt im Süden an das Waldstück und dient als Basis. Das Gelände ist in Privatbesitz. Der Eigentümer duldet die Umwelt-Aktivisten. Auf dem schmalen Streifen, der in Richtung eines Segelflugplatzes führt, haben die Bewohner Hütten aus Lehm gebaut. Es gibt Wohnwagen, ein Treibhaus, eine Küche mit Keller sowie einen Waschplatz. Von dort ist es nicht weit nach "Oaktown". Daneben gibt es "Gallien" mit drei Baumhäusern und "Beachtown" mit vier. Weitere einzelne Hütten befinden sich irgendwo im Wald. Jeder der besetzten Bäume trägt einen eigenen Namen.

Wie die Zukunft der Aktivisten aussieht, ist seit Mittwoch ungewisser denn je. Das Oberverwaltungsgericht in Münster hat entschieden, dass das Camp illegal ist. Es bestätigt damit die Entscheidung des Kreises, dass alle Bauten auf dem Grundstück entfernt werden müssen. Die im Grundgesetz geschützte Versammlungsfreiheit werde nicht verletzt. RWE begrüßt das Urteil. Alleine in diesem Jahr hat der Konzern nach eigenen Angaben über 130 Straftaten angezeigt. Es gab Brandanschläge, Gleisbesetzungen, und rund 30 Angriffe auf Arbeiter. In Bodendepots hat die Polizei Bausätze für Molotow-Cocktails gefunden. "Eine zügige Räumung würde die Lage entspannen", sagt ein Unternehmenssprecher. Ob und wann es dazu kommt, ist noch unklar. Es gelte abzuwarten, bis das Urteil rechtskräftig ist, sagt Landrat Wolfgang Spelthahn: "Anschließend werden wir das weitere Vorgehen in der Verwaltung abstimmen." Eine Revision ist nicht zugelassen, allerdings ist dagegen eine Beschwerde möglich.

Bis dahin bleibt die Polizei vor Ort. "Unsere Aufgabe ist es, die Arbeiter vor gewalttätigen Übergriffen zu schützen und Straftaten zu verfolgen. Das werden wir wie bisher konsequent tun", sagte Aachens Polizeipräsident Dirk Weinspach.

Der Lärm der Kettensägen, die patrouillierenden Polizisten, das sei zermürbend, sagt Tim. Auch er ist ein Aktivist — ein Wort, das für einige nicht weit genug geht. Für sie sind es "Öko-Terroristen". Tim steht nie still, auf dem Boden fühlt er sich nicht sicher. "Aber trotzdem sind wir noch hier", fügt er hinzu, lächelt, sein orangefarbener Overall leuchtet zwischen den blätterlosen Bäumen. Es sei ein kleiner Sieg errungen, "jedes Mal, wenn die Kettensägen nicht laufen". Auch wenn dafür Barrikaden brennen, die die Camp-Bewohner errichten, um RWE-Fahrzeuge zu stoppen.

Eine Photovoltaikanlage liefert Strom für das Baumhaus

Die meisten Aktivisten haben die Baumhäuser selbst gebaut. Clumsy hatte eine Ausbildung zum Zimmermann begonnen, die Handgriffe von damals sind noch präsent. Sechs Monate brauchte er, um das Haus fertigzustellen. Nun ist es etwa zehn Quadratmeter groß, hat Balkon sowie einen Heizofen und eine Schlafecke. Dazu ist Platz für Wasserkanister und Konservendosen. "Wenn nötig, kann ich drei bis vier Wochen hier oben bleiben", sagt Clumsy. In Tims Baumhaus nebenan liefert eine Photovoltaikanlage Strom für Licht, seinen Laptop und eine Internetantenne. Nur zum Duschen gehen sie zu Bekannten. Essen erhalten die Campbewohner als Spende von Einzelpersonen, aber auch Landwirten und Supermärkten in der Umgebung.

Die Bewohner vereint der Umweltschutz, aber auch der Wunsch nach Größerem. Ihre Vorstellungen sind so vage wie vermessen. Sie wollen Grenzen überschreiten, so groß wie jene Bewegungen werden, die einst die Sklaverei stürzten und das Frauenwahlrecht ermöglichten. So behauptet es zumindest Clumsy. Doch die Aktionen müssten immer spektakulärer werden, um Gehör zu finden, meint Tim: "Zum Beispiel noch höher auf den Bagger klettern." Ob denn dann auch ein Stein fliege? "Jeder entscheidet selber, wie er handelt", sagt Tim. Wer ist verantwortlich für die Gewalt? "Wenn niemand sagt, er war es, erfährt man es nicht", sagt Clumsy. Er lässt sich durch das Urteil nicht entmutigen. "Wir machen auf jeden Fall weiter — bis zum letzten Baum."

(emy)
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