Urteil gegen den Wachmann von Auschwitz "Eine Strafe, die er verdient"

Detmold · Reinhold Hanning, ein früherer Wachmann im Konzentrationslager Auschwitz, ist in Detmold zu einer fünfjährigen Haftstrafe verurteilt worden. Überlebende des Holocaust sprechen von später Gerechtigkeit.

Prozess: Haftstrafe für Auschwitz-Wachmann Reinhold Hanning
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Haftstrafe für Auschwitz-Wachmann Hanning

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Anders als an früheren Prozesstagen, als Reinhold Hanning meist in sich versunken auf den Boden schaute, lauscht der greise Angeklagte den Worten der Vorsitzenden Richterin Anke Grudda sichtlich aufmerksam. Auch noch am Ende der einstündigen Urteilsbegründung bleibt der 94-Jährige gefasst. Immer wieder spricht die Richterin den alten Mann im Rollstuhl an: "Mit Ihrer Wachtätigkeit haben Sie für einen reibungslosen Ablauf der Tötungsmaschinerie gesorgt", sagt Grudda. Er sei ein Rädchen in der industriellen Vernichtung gewesen, "Rückgrat der Wachmannschaft", die jeden Gedanken an Flucht und Widerstand im Keim erstickte.

Beihilfe in 170.000 Fällen

Für die Beihilfe zum Mord an 170.000 Häftlingen im Konzentrationslager Auschwitz ist der ehemalige SS-Mann zu fünf Jahren Haft verurteilt worden. Das Landgericht Detmold sah als erwiesen an, dass Hanning als Wachmann zum Funktionieren der Mordmaschinerie beigetragen hat. "Sie waren knapp zweieinhalb Jahre in Auschwitz und haben damit den Massenmord befördert", sagte Richterin Anke Grudda zu Beginn der Urteilsbegründung. Hanning habe den Tod in den Gaskammern, die Erschießungen, das Verhungernlassen und die Misshandlungen der Häftlinge zumindest billigend in Kauf genommen. Als SS-Mitglied mit Befehlsgewalt sei er an den Verbrechen beteiligt gewesen, nicht bloßer Mitwisser. Während seiner Zeit in Auschwitz sei er mehrfach befördert worden. Das zeige, dass er sich wohl als "willfähriger und effizienter Gefolgsmann bei der Tötungsarbeit" bewährt habe.

Hanning hatte im Prozess zugegeben, Mitglied der SS-Wachmannschaft gewesen zu sein und vom Massenmord gewusst zu haben. Er war von Anfang 1942 bis Juni 1944 in dem nationalsozialistischen Vernichtungslager eingesetzt. Überlebende Auschwitz-Häftlinge hatten ihn vergeblich zu einer umfassenden Aussage aufgefordert. In einer persönlichen Erklärung hatte Hanning lediglich gesagt, er bereue zutiefst, "einer verbrecherischen Organisation angehört zu haben".

Die Erwartungen an das Urteil waren von Beginn an hoch, an diesem Tag erfüllen sie sich für die meisten: "Dass ein deutsches Gericht seine Schuld anerkennt, ist für mich das Ende eines Kapitels, ein wichtiger Schritt für Gerechtigkeit", sagt William Glied, Jude aus Toronto. Als kleiner Junge entkam er dem KZ knapp.

Korrektur eines Versagens

Anwälte der Nebenkläger nennen das Urteil eine Korrektur jahrzehntelangen Justizversagens. "Endlich wird eine historische Selbstverständlichkeit, nämlich die Mitschuld der Wachleute, auch als solche anerkannt", sagt Nebenkläger-Anwalt Cornelius Nestler. Staatsanwalt Andreas Brendel spricht von einem "Meilenstein bei der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit". Opfer-Organisationen reagieren erleichtert. "Er hat die Strafe bekommen, die er verdient", betont der Jüdische Weltkongress in New York

Historisch sind Prozess und Urteil auch deshalb, weil in Detmold zahlreiche hochbetagte Überlebende und Nebenkläger die vielleicht letzte Möglichkeit wahrnehmen konnten, vor einem deutschen Gericht Gehör zu finden: "Spät, sehr spät, aber gerade noch rechtzeitig, bevor die lebenden Erinnerungen in überlieferte Erinnerungen übergehen", wie Richterin Grudda sagt.

Elf Zeitzeugen hatten mit ihren persönlichen Geschichten dem Horror von Auschwitz Gesicht und Stimme gegeben. Sie schilderten Gewalt und Willkür der SS-Leute, die Todesangst, bei jeder Selektion, wenn die Arbeitsfähigen überleben durften und die Schwachen für die Gaskammer ausgewählt wurden. Sie beschrieben Hunger und Verzweiflung, wenn sie von ihren Familien getrennt wurden.

Für dieses Leid gebe es keine angemessene Strafe, räumt Grudda ein. Dennoch müsse sie sich auf ein Strafmaß festlegen, auch wenn niemand wisse, ob Hanning gesund genug sein wird, eine Haft anzutreten, wenn das Urteil rechtskräftig wird. Das Gesetz hätte ein Strafmaß bis zu 15 Jahre erlaubt. "Wir können und wir dürfen ihn nicht symbolisch für alle Taten des Holocaust zur Rechenschaft ziehen." Er sei geständig, das Verfahren habe ihm zugesetzt, ordnet die Richterin ein.

Eines muss sich der jetzt Verurteilte vorhalten lassen: "Er hätte reden sollen, so wie wir es tun, über das, was in Auschwitz geschehen ist. Diese Chance hat er vertan", sagt Leon Schwarzbaum (95). Auch er hat im KZ seine Familie verloren.

(dpa)
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