Dinslaken 1984 - Burghofbühne aktualisiert Orwell

Dinslaken · Mirko Schombert inszeniert an der Burghofbühne Orwells düstere Zukunftsvision als beklemmendes Schauspiel. Publikum feiert Regie-Debüt des Intendanten.

2015: Der große Saal der Kathrin-Türks-Halle füllt sich. Der Anteil an Schülern bei eine Burghofbühnenpremiere im Abendspielplan fällt positiv auf. Ebenso wie es befremdlich wirkt, dass die Echtzeitübertragung der Saalkamera auf der Multimedialeinwand in der Mitte des zweigeschossigen Bühnenbildes (Kay Anthony), in Schwarz-Weiß gezeigt wird. Gibt's das eigentlich als App, das eigene Selfie als Livestream aufs eigene Smart Phone? Gedankenspiele, für die es in den nächsten eineinhalb Stunden keinen Platz mehr gibt. Die permanente Kamera-Überwachung ist nur eine Komponente, wenn auch die bekannteste, in George Orwells Roman "1984".

Geschrieben 1948 beschäftigt sich die Vision mit den Mechanismen der Macht, der Manipulation der Massen und der Auslöschung des Menschen als Individuum in einem totalitären Regime. Manches davon hat sich überlebt wie die Stasi und die DDR (der Fall der Mauer wird geradezu zum realen Gegenbeweis der Orwellschen Utopie), manches erinnert an heutige Nationen, die regelmäßig wegen der Verletzung von Menschenrechten in der Kritik stehen. Die Grundfragen nach Gedankenfreiheit, dem Streben nach Macht und nach dem, was den Menschen menschlich macht, bleiben universell.

Das Stück beginnt, bedingt durch das dramaturgisch sperrige Skript von Michael Raab, collagenhaft. Die Bühne aus beengten Spielzellen, die durch Rollos zu Schattenspieltheatern werden können, ist eine Mischung aus der Herzmaschine von Metropolis und einem Videoclip von - 1984. Sie zeigt die enge, ständig überwachte Welt der "äußeren Partei", Menschen, die willige Gefolgsleute und Erfüllungsgehilfen des Apparates sind. Hier manipuliert Winston Smith die Zeitungen von gestern. Die Partei fälscht die Vergangenheit in ihrem Sinne: Geschichtsklitterung durch die herrschende Schicht ist so alt wie die Geschichte selbst.

Zunächst versucht Smith alleine, dann an der Seite von Julia (Lara Christine Schmidt), Individualität, Gedankenfreiheit und persönliche Gefühle zu bewahren. Ein Todesurteil in einer Gesellschaft, in der ein Syme (Benedikt Thönes), stolz darauf ist, von seiner sechsjährigen Tochter im Schlaf bespitzelt zu werden, selbst ein so sanfter, mit Antiquitäten und somit mit Erinnerungen handelnder Mensch wie Mr. Charrington (von Schombert bewusst mit Publikumsliebling Erwin Kleinwechter besetzt) ein Verräter ist, und der linke Anarchist, der das System stürzen will und dafür von seinen Unterstützern jede Aufgabe von moralischem Handeln fordert, ein Doppelagent ist. Fast liebevoll wird O'Brien (Christoph Bahr), Winston Smith foltern. Er ist die Verkörperung des Januskopfes, mit der Orwell 1948 den Marxschen Kommunismus und einen totalitären Sozialismus als untrennbar zeichnete.

Wie bricht man einen Menschen? Dies exerziert das letzte Drittel des Stückes mit einer Intensität, die unter die Haut geht, während die Kamera den gefolterten Winston förmlich seziert, Mit dessen Verrat an Julia aus Angst vor der eigenen Angst könnte das Stück enden. Doch Mirko Schombert lässt die Liebe als glimmende Glut leben. "For Real" singt Carlo Sohn mit gebrochener Stimme zum Livemitschnitt von Okkervil River (eine amerikanische Indieband der 2000er Jahre, die zum Geheimtipp gerät). Als es schwarz wird auf der Bühne, verharren die Zuschauer in Stille. Dann brandet ein Applaus auf, für den sich viele Zuschauer von ihren Sitzen erheben.

Eine bemerkenswerte Reaktion am Ende einer Burghofbühnenpremiere und für Mirko Schombert ein Erfolg, wie er ihn sich nicht besser hätte wünschen können.

(RP)
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