Neu In Der Stadtbibliothek Auschwitz - moralische Schuld, politische Last

Dinslaken · Unter den prominenten deutschen Gegenwartsautoren gibt es nur einen, den man immer wieder mit Antisemitismus-Vorwürfen bedacht hat: Martin Walser. Vor allem mit seiner umstrittenen Frankfurter Friedenspreis-Rede von 1998, in der er vor einer Ritualisierung der deutschen Schuld als "Pflichtübung" und "Drohroutine" warnte, und mit seinem satirischen Roman "Tod eines Kritikers", zog Walser den Vorwurf eines unterschwelligen Antisemitismus auf sich - meines Erachtens durchaus zu Unrecht.

In den letzten Jahren rückte Walser von seiner Kritik an der gesellschaftlichen Ritualisierung und der politischen Funktionalisierung von Auschwitz ab und spricht heute von einer "bedingungslosen Schuld der Deutschen": "Wir können nichts mehr gutmachen. Nur versuchen weniger falsch zu machen."

Nachzulesen ist dies alles jetzt in dem Band "Unser Auschwitz", der Textauszüge aus sechs Lebensjahrzehnten Walsers zusammenstellt, in denen er sich mit dem Holocaust und seiner Verdrängung nach 1945 auseinandersetzt. Die Anthologie spannt einen weiten Bogen von Romanausschnitten aus den späten 1950er und den1960er-Jahren, von Dramen wie "Der Schwarze Schwan" (1964) über die umstrittene Friedenspreis-Rede von 1998 und über essayistische Würdigungen jüdischer Autoren bis hin zu einer Liebeserklärung Walsers an die jiddische Literatur. Diese Texte widerlegen nicht nur den oft gemachten Vorwurf des latenten Antisemitismus Walsers, sondern dokumentieren zugleich, dass die Auseinandersetzung mit der deutschen Schuld zum Kernthema von Walsers literarischem Werks gehört. Das Spannende an diesem Lesebuch sind dabei die unterschiedliche Aspekte und Facetten, die Martin Walser diesem Thema im Laufe seines Lebens und Schreibens abgewann.

Die Texte zeigen aber auch, dass sich "Auschwitz", diese Chiffre für die systematische Ermordung der Juden im deutschen Machtbereich, für jede neue Generation und im Lichte neuer geschichtlicher Erfahrungen anders im öffentlichen Bewusstsein darstellt. Heute, da das Wiederaufleben des Antisemitismus in Europa jedem human und liberal Denkenden Sorge bereiten muss, hat dieses Walser-Lesebuch noch einen zusätzlichen Appellcharakter: Es erinnert uns an die besondere Schuld und die besondere Verantwortung des deutschen Volkes gegenüber den Juden, daran, dass es deutsche Identität wohl noch auf lange Zeit nicht geben kann, ohne ein historisches Bewusstsein des Genozids an den Juden.

DR. RONALD SCHNEIDER

Walser, Martin: Unser Auschwitz - Auseinandersetzungen mit der deutschen Schuld. Herausgegeben von Andreas Meier; Rowohlt: 2015.

(RP)
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