Dinslaken Das Ruhrgebiet ist Babylon

Dinslaken · Ruhrtriennale-Intendant Johan Simons inszenierte Björn Bickers "Urban Prayers" als babylonisches Sprachgewirr dessen, was Gläubige im Ruhrgebiet bewegt. Aufführung unter der Kanzel in der Lohberger Lutherkirche.

 Urban Prayers ist an sechs aufeinander folgenden Sonntagen in sechs verschiedenen Gotteshäusern im Ruhrgebiet zu Gast - hier in der Lutherkirche Lohberg.

Urban Prayers ist an sechs aufeinander folgenden Sonntagen in sechs verschiedenen Gotteshäusern im Ruhrgebiet zu Gast - hier in der Lutherkirche Lohberg.

Foto: Heiko Kempken

Noch sprechen sie mit einer Stimme, unisono, Silbe für Silbe im Metrum getaktet: "Was glaubt Ihr denn, wer wir sind, wo wir wohnen, wo wir uns verstecken, wo wir Euch begegnen könnten." Die Einheit trügt.

Denn schon bald stürzen aus den Mündern der fünf Schauspieler vorne unter der Kanzel der Lohberger Lutherkirche Wortschwälle auf die vielen Besucher der diesjährigen Ruhrtriennalen-Inszenierung von Johan Simons in Dinslaken nieder. Meriam Abbas, Jele Brückner, Ismail Deniz, Sheri Hagen und Michael Lippold sprechen zwar nur eine Sprache, aber doch reden sie in den vielen Zungen des urbanen Ballungsraums Ruhrgebiet.

Björn Bicker hat Gläubige aller Religionen zu ihren Überzeugungen und ihrer Weltsicht, zu ihren Riten und ihren Träumen und auch zu ihren Sorgen und Nöten befragt,die sie in einer scheinbar verweltlichten Welt bewegen. Heraus kam eine thematisch gegliederte Collage des Für und Wider, der Bekenntnisse und deren Aufhebung, ein Gewirr der Meinungen und Gegenmeinungen.

Auf der Suche nach Gott auf der Autobahn 40: Das Ruhrgebiet ist Babylon. Durchmessen nicht durch den Turm zum Himmel, sondern plan von A nach B durch seine Autobahnen.

Lebensadern sollten sie in diesem lebendigen, wimmelnden Gemisch von Menschen unterschiedlichster Herkunft sein, die hier doch nur zwei Dinge suchen: eine Heimat und eine Identität. Doch wie auf den Autobahnen oft nichts mehr geht, weil zu viele vorankommen wollen, so scheint gerade die Vielfalt auch Stagnation zu bedeuten.

Kaum ein Denkansatz, eine Überzeugung, ein Impuls für soziale und persönliche Entwicklung durch den Glauben, die nicht durch eine gegenteilige Position nivelliert wurden.

Dabei gibt's sie, die gemeinsamen Nenner. Wenn sich zwei zusammentun, Seite an Seite reden. Bevor die "Urban Prayer", die sprachlich rhythmisierte Zusammenstellung von O-Tönen Glaubender aller Religionen im Ruhrgebiet, durch Björn Bicker das evangelische Gotteshaus auf ihrer Tour von Hamm bis Lohberg widerhallen ließ, sprachen Pfarrerin Kirsten-Luisa Wegmann und Hodscha Ahmed Sen über Gott und Lohberg.

Auf deutsch und auf türkisch, aber doch fast denselben Worten. "Augenfarben mögen verschieden sein, aber die Tränen sind die gleichen", so Sen, das Bild schwebte über den schnell gesprochenen Texten der Schauspieler, in denen nicht nur um Glaubensfragen, sondern um Vorbehalte, Vorurteile, ja selbst um Parkplätze gekämpft wurde.

So dissonant die Texte, so harmonisch waren die Klänge von der Empore.

Die Sängerinnen und Sänger des ChorWerks Ruhr unter der Leitung von Florian Helgath sangen mit höchster Präzision das serbisch-orthodoxe "Tebe Pojem" und ein "Kyrie" von Paestrina, "Enosh" des ganz der romantischen Chormusik des 19. Jahrhunderts verhafteten Louis Lewandowski und das "hinduistische" Sri Kamadchi Ampal.

Einhellig fiel dann auch die Meinung des Publikums zu den "Urban Prayers" - ein Anglizismus übrigens, der sich im Inhalt dieser Ruhrstadt-Gebete nicht widerspiegelte - aus.

Als der Chor "Daglar Ile Taslar Ile" beendet hatte, brach Applaus auf, nach dem Schlusslied der lokalen Protestanten wurde die Produktion mit Ovationen im Stehen gefeiert: Nach Aussage der Schauspieler war das die stärkste Publikumsreaktion, die die Produktion bislang erfahren hat.

(RP)
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