Kolumne Neu In Der Stadtbibliothek Der Exodus der deutschen Dichter und Denker

Dinslaken · Mit der Machtergreifung der Nazis in Deutschland 1933 setzte eine Fluchtbewegung deutscher Intellektueller, Wissenschaftler und Künstler ein, die 1939/40 - mit der Ausdehnung des deutschen Machtbereichs auf halb Europa - noch einmal dramatisch zunahm. Insbesondere in Frankreich löste der Sieg der Wehrmacht im Sommer 1940 eine Massenflucht deutscher Emigranten in den Süden Frankreichs aus, von wo dann oft erst einmal kein Weiterkommen mehr war.

In den Biografien vieler bedeutender deutscher Schriftsteller, Künstler und Intellektueller sind die Stationen ihres Exils genau beschrieben, erstaunlicherweise ist die Geschichte dieser tausender prominenter und weniger prominenter Flüchtlinge und ihrer Fluchtstationen noch nie im Zusammenhang geschildert worden. Dies hat der Wiener Kulturjournalist Herbert Lackner jetzt in seinem Sachbuch "Die Flucht der Dichter und Denker" auf überzeugende Weise nachgeholt und dabei auch neues Quellenmaterial erschlossen und neue Fakten ans Licht gebracht.

Lackner beschreibt nicht nur die lange Odyssee der Emigranten, sondern zeichnet auch ein eindrucksvolles Panorama des deutschen Geisteslebens im Exil - denn fast alles, was in Kunst und Wissenschaft Rang und Namen hatte, verließ damals Deutschland oder musste es verlassen.

Die farbig erzählte und spannend zu lesende Darstellung schildert auch eine - heute so gut wie vergessene - dramatische Rettungsaktion, die kein Geringerer als Thomas Mann in den USA auf den Weg gebracht hatte. Dank der Hilfsmittel eines US-amerikanischen Komitees konnte der amerikanischer Journalist Varian Fry im Sommer 1940 über 2200 in Südfrankreich gestrandete Exilanten (darunter Heinrich und Golo Mann, Franz Werfel, Marta Feuchtwanger und Friderike Zweig, die Ehefrau Stefan Zweigs) vor Hitlers Schergen retten und auf abenteuerlichen Wegen über Spanien und Portugal bis in die USA bringen.

Entstanden ist dieses Buch auch aus der Betroffenheit des Autors über die Flüchtlingskrise der Jahre 2015/16 in Europa, und bei allen Unterschieden werden hier auch viele bedrückende Parallelen deutlich: der Verlust von beruflicher und gesellschaftlicher Stellung und (noch schlimmer) der Verlust der Muttersprache, die finanziellen Nöte und die meist sehr reservierte und nicht selten auch feindselige Haltung der einheimischen Bevölkerung gegenüber den Emigranten. Ein packend erzähltes Kapitel der deutschen Literatur- und Kulturgeschichte und ein überaus lesenswerter historischer Beitrag zu einem aktuellen Thema.

RONALD SCHNEIDER

Herbert Lackner: Die Flucht der Dichter und Denker. Wie Europas Künstler und Intellektuelle den Nazis entkamen; Ueberreuter-Verlag, 2017.

(RP)
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