Hintergrund Heinrich Bähr Der Mann, der den Alltag im Ghetto zeichnete

Dinslaken · Als Kind wohnte er einige Jahre im "Israelitischen Waisenhaus Dinslaken". Theresienstadt überlebte er, weil er für die Nazis Plakate und Schilder malte.

 Eine Zeichnung von 1944: Essensausgabe.

Eine Zeichnung von 1944: Essensausgabe.

Foto: Leo-Beck-Institut

Dinslaken Heinrich Bähr wurde 1897 in der Wormser Judengasse, im Schatten einer der ältesten Synagogen Deutschlands, geboren. Seine Eltern waren der Handlungsreisende Heinrich Max Bähr und dessen Ehefrau Mathilde. Die Ehe der Bährs wurde 1903 geschieden, im darauffolgenden Jahr verstarb Mathilde Bähr. Heinrich Max Bähr war finanziell nicht in der Lage, sich angemessen um seinen Sohn kümmern zu können. 1906 wurde Heinrich Bähr im Alter von neun Jahren in das "Israelitische Waisenhaus Dinslaken" gebracht. Wie lange er in Dinslaken lebte, ist nicht bekannt. Vermutlich blieb er wenigstens bis zum Abschluss der Volksschule in der Stadt. Er war 17, als der Erste Weltkrieg begann, wurde Soldat. Als Invalide kehrte er aus dem Krieg zurück - ein Bein war ihm amputiert worden.

Im September 1929 heiratete Heinrich Bähr die Schneiderstochter und Modistin Bertha Adler aus Frankfurt am Main. Das Ehepaar lebte in der Kölner Altstadt. In Adressbüchern aus dieser Zeit gab Heinrich Bähr "Dekorationsmaler" als Berufsbezeichnung an. In einem Nachkriegsdokument verwandte er den Begriff "Plakatmaler". 1942 lebten beide im Kölner "Ghettohaus" an der Cäcilienstraße 18-22. Als Verwundeter des Ersten Weltkriegs wurde Heinrich Bähr mit seiner Ehefrau am 27. Juli 1942 in das von den Nationalsozialisten so genannte "Altersghetto" Theresienstadt bei Prag deportiert und nicht in eines der Ghettos auf polnischem, baltischem oder weißrussischem Gebiet.

Heinrich Bähr überlebte Theresienstadt, weil seine künstlerische Begabung gebraucht wurde. Er malte und zeichnete Hinweisschilder, Pläne und Plakate für die jüdische Selbstverwaltung. Bähr nutzte den Zugang zu Farben, Tusche und Pinsel auch, um das Ghetto heimlich darzustellen. Er zeichnete vorwiegend Gebäude - das Elend hinter den Mauern wird nur in seltenen Fällen sichtbar. Eine Ausnahme ist die Darstellung einer weinenden jungen Frau, die um ihren toten Mann im "Männerquartier" des Gebäudes "L306" trauert. Ein weiteres Bild "Theresienstadt, Hofgebäude" aus dem Jahr 1944 hält durch seine nachträgliche Bildunterschrift die erschreckende Wahrheit fest: "In der Krankenstube, welche in Wirklichkeit eine Sterbe-Stube war, hatte meine Frau Nachtdienst." Auf der Rückseite notierte er: "Wer in die Krankenstube hineinkam, kam nicht mehr lebend heraus. "

In Theresienstadt entstanden auch acht Gedichte, in denen Heinrich Bähr den Lageralltag im Ghetto schildert und aus denen Autobiographisches entnommen werden kann. Ein Gedicht widmete er seiner Frau zum 40. Geburtstag im August 1943. Bertha Bähr arbeitete im Krankenrevier des Ghettos und erkrankte zu dieser Zeit selbst schwer. Als Theresienstadt im Mai 1945 befreit wurde, hielt Heinrich Bähr diesen Moment der Freude und Dankbarkeit in einer Szene fest: Überlebende Frauen umarmen sich auf dem Marktplatz des Ghettos.

Während den Jahren 1941 bis 1945 waren insgesamt 141.000 Juden aus Deutschland, Österreich, den Niederlanden, Ungarn, Polen und Dänemark in das Ghetto, das sich in einer spätbarocken Festungsanlage befand, deportiert worden. In Theresienstadt starben etwa 33.500 Menschen, in mehr als 60 Transporten wurden 88.000 Juden in die Vernichtungslager gebracht, wovon etwa 3500 überlebten. 23.000 Menschen wurden gerettet.

Das Ehepaar Bähr gehörte zu den Millionen in Deutschland lebenden sogenannten "Displaced Persons", als es im August 1945 das jüdische DP-Lager Deggendorf in Bayern erreichte. Zwei weitere Zeichnungen entstanden - die eine zeigt einen Tanzabend im Lager, die andere eine Alltagsszene auf einer Straße der Stadt. Im Juni 1946 ging das Ehepaar Bähr in Bremen an Bord des Schiffes "Marine Flasher", das es in die USA brachte.

Heinrich Bähr nannte sich nun Henry Behr und lebte mit seiner Ehefrau Bertha in New York. Über sein weiteres Berufsleben ist nichts bekannt. Seine Bilder und Gedichte sowie eine Sammlung von Dokumenten aus seiner Theresienstädter Zeit vermachte er 1979 dem Leo-Baeck-Institut. 1981 starb Behr 84-jährig in New York. 1985 gelangten zwei Bilder von Henry Behr nach Berlin: Die "Berlinische Galerie" zeigte Exponate deutsch-jüdischer Künstler aus der Sammlung des Leo-Baeck-Instituts in New York. Die Ausstellung wurde durch eine Auswahl von Dokumenten ergänzt, die das Leo-Baeck-Institut aufbewahrt. Im Katalog finden sich so berühmte Namen wie Max Liebermann und Felix Nussbaum sowie Kurt Tucholsky, Alfred Döblin und Ernst Toller.

Eines der in Berlin gezeigten Bilder war die "Kavalier-Küche" von Henry Behr aus dem Jahr 1944. Die 21,6 mal 26,8 Zentimeter große Arbeit (Feder und Aquarell) zeigt die Essenausgabe im Ghetto: Die Menschen tragen unter den Augen von zwei SS-Männern ihre leeren "Henkelmänner" zu Essenausgabe und bringen sie gefüllt in ihre Unterkünfte. Es scheint geordnet und ruhig zuzugehen. Die Bildunterschrift, die er nach dem Krieg einfügte, verrät die Hungerrationen, die verteilt wurden. Henry Behr zählt nicht zu den herausragenden Zeichnern und Malern wie Bedrich Fritta, Ferdinand Bloch und Leo Haas, die das Leben in Theresienstadt mit künstlerischen Mitteln darstellten. "Der Wert und die Eindringlichkeit seiner Blätter beruhen auf ihrer Authentizität", befanden seinerzeit die Ausstellungsmacher in Berlin.

(RP)
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