Kolumne Neu In Der Stadtbibliothek Ein Ausbruch aus der bürgerlichen Wohlstandswelt

Dinslaken · Der 1963 geborene Schweizer Schriftsteller Peter Stamm hat mit seinen Romanen und Erzählungen, aber auch mit seinen Theaterstücken und Hörspielen in der Schweiz wie in Deutschland bisher eine beachtliche Resonanz gefunden. RP-Lesern wurde er zum ersten Mal 2013 mit seinem fesselnd zu lesenden Roman "Nacht ist der Tag" vorgestellt.

In seinem neuen Roman - es ist sein sechster - greift der Autor einmal mehr sein großes literarisches Thema auf: die Selbstentfremdung in gesellschaftlichen Rollenmustern und die innere Leere des Schweizer Wohlstandsbürgertums. Thomas, der männliche Protagonist des Romans, bricht von einem Augenblick zum anderen und scheinbar ohne erkennbares Motiv aus seinem wohlgeordneten bürgerlichen Leben aus und schlägt sich auf abgelegenen Wanderrouten in die Süd-Schweiz durch. Er taucht unter und lebt von einfachen Jobs bei Bauern oder Gastwirten - und erlebt das Glücksgefühl eines gelungenen Ausbruchs aus einem fremdbestimmten Leben.

Nach 20 Jahren des Streuner-Lebens durch mehrere Länder kehrt er - für den Leser ebenso überraschend wie bei seinem Aufbruch - in sein altes Zuhause zurück, wobei offen bleibt, wie sich sein künftiges Leben gestalten wird. Astrid, seine Frau, ist in jeder Hinsicht sein Gegenbild: Sie verleugnet zunächst sein Verschwinden, so lange sie kann und hält bis zuletzt am Weiterbestehen ihrer Ehe und an ihrem alten Leben fest.

Erzählt ist dies alles in leisen Tönen und in einer unterkühlt-sachlichen Sprache. Anders wird der Ton bei den eindringlichen und eindrucksvollen Natur- und Landschaftsbeschreibungen, in denen die unberührte Natur zur Metapher der Freiheit wird. Bestechend auch, wie der Autor seine Figuren psychologisch "rund" gestaltet, ohne sie je zu analysieren. Und auch für Spannung ist gesorgt. Denn der Roman verschweigt dem Leser bis zuletzt die Motive von Thomas' Abtauchen und seiner plötzlichen Wiederkehr - und zwingt ihn, diese selbst zu enträtseln. Und ohne dass dies ausgesprochen würde, appelliert der Roman am Ende an seine Leser, tradierte Rollenmuster, in denen ihr eigenes Leben möglicher Weise festgefahren ist, mutig aufzusprengen. Und das ist allemal lesenswert.

DR. RONALD SCHNEIDER

Stamm, Peter: Weit über das Land, S. Fischer Verlag: 2015

(RP)
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