Ronny Schneider Ein Gespräch über Luther und die Welt

Dinslaken · Ein Protestant und ein Katholik im Dialog über den Reformator, seine Wirkungsgeschichte und das, was die beiden Kirchen verbindet.

Als ich mir als Katholik überlegt habe, mit welchem evangelischen Christen ich im Lutherjahr einmal über den Reformator und darüber, wie er noch heute unser Leben beeinflusst, sprechen möchte, kamen mir sofort Sie in den Sinn. Natürlich weil Sie evangelischer Pastor sind, vor allem aber, weil Sie gebürtiger Kölner sind. Können Sie sich vorstellen, warum ich gerade das besonders interessant finde?

Ronny Schneider Vielleicht weil es den Begriff vom "hilligen Kölle" gibt und laut dem Kölner Kabarettisten Jürgen Becker ja alle Welt glaubt, dass das Beste sei, katholisch zu sein und dass Köln durchweg katholisch geprägt ist. Das war ja wohl auch bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs der Fall. Aber nach dem Krieg und mit den vielen, die als Flüchtlinge in Köln Fuß gefasst haben, hat sich die Bevölkerung, was die Konfessionen angeht, in etwa halbiert. Köln bleibt aber natürlich - man muss sich ja nur den Dom angucken - stark katholisch geprägt, und die katholische Kirche ist ja auch eine sehr sichtbare Kirche. Als Kind bin ich bei der Fronleichnamsprozession, der Mülheimer Gottestracht, am Rheinufer gewesen und habe das Ganze bestaunt.

Für mich als katholisch geprägten Menschen steht Köln für viel von dem, was - Urteil oder Vorurteil - genau das Gegenteil von Luther und evangelisch sein ausmacht. Katholiken feiern Karneval, können übermütig sein, evangelische Christen sind eher streng, Katholiken haben die Chance, zur Beichte zu gehen und ihre Sünden vergeben zu bekommen, für evangelische Christen dagegen ist das Leben ein einziger fortwährender Gottesdienst, in dem sie sich bewähren müssen, kurz: Protestantismus ist ein eher anstrengender, freudloser Glaube. Warum also wird ein Kölner, der ja genug Gelegenheit hatte, die "Leichtigkeit des Seins" zu erleben, ausgerechnet evangelischer Pastor?

Schneider Das Bild des asketisch strengen, ernsten und freudlosen Protestanten und des lebensfrohen, feierfreudigen Katholiken erinnert mich an Schubladendenken und doch: Während die Kölner mit ihrem ganz eigenem Grundgesetz hantieren - et hät noch immer jot jejange, et kütt wie et kütt - und recht gelassen mit den Dingen umgehen, war Luthers Antrieb ja, die Dinge eben nicht mehr laufenzulassen. Luther hat in seiner Zeit gerade mit dem Blick auf den damals desolaten Zustand der Kirche den Finger in die Wunde gelegt. Dass ich evangelischer Pfarrer geworden bin, habe ich einem Pastor in meiner Heimatgemeinde Köln rechtsrheinisch zu verdanken. Ich habe in der Gemeinde Tischtennis gespielt, weil ich nur da die Möglichkeit dazu hatte. Der Pastor hat mich in den Mitarbeiterkreis eingeladen. Ich kam da an, und der Jüngste in diesem Mitarbeiterkreis für den Kindergottesdienst war so Ende fünfzig. Das waren die Frauen und Männer, die den Kindern sonntags die biblische Geschichte erzählt haben. Vom Altersunterschied habe ich mich aber nicht abschrecken lassen. Der Pastor hat mich sehr gefördert und mein Interesse für Gemeindearbeit und Theologie geweckt. So bin ich dann nach und nach in mehr Felder der Gemeindearbeit eingestiegen, habe Konfirmandenarbeit gemacht, Jugendarbeit, war auf Freizeiten dabei, habe bunte Abende organisiert, habe einen ersten Gottesdienst gestaltet zum Jubiläum von "Vingst 05", das ist ein Fußballverein, in dem ich mal aktiv gespielt habe. Der feierte sein 60-jähriges Bestehen, und dazu habe ich eine Predigt gehalten. Als wir vor dem Abitur im Gymnasium aufgefordert wurden, aufzuschreiben, was wir werden wollten, war mir klar, dass ich Theologie studieren und Pastor werden will, weil ich das Gefühl hatte, dass ich eigentlich schon fast alles gemacht habe, was diesen Beruf ausmacht. Das ganze Spektrum der pastoralen Arbeit hat mir total gut gefallen. Und ich wollte beim Studium der Bibel, dem Evangelium und der Theologie auf die Spur kommen.

Das ist das Stichwort, um zurück zu Luther zu kommen. Für ihn war entscheidend, zurück zur Bibel zu finden und zur Verantwortung des Einzelnen für die Auseinandersetzung mit dem Wort Gottes. Mit dieser Individualisierung des Glaubens hat er den Menschen einerseits befreit und ihn gestärkt, er hat ihm aber auch eine ungeheure Verantwortung auf die Schultern gepackt.

Schneider Darum liebe ich die eine Kirche. Die eine Kirche ist für mich die evangelische und die katholische in ihrer jeweiligen Ausprägung, weil ich meine, dass katholisch sein und evangelisch sein sich wunderbar ergänzen können. Was dem einen fehlt, kann der andere liefern. Wenn die evangelische Kirche den Glauben zu sehr auf den Einzelnen zuschneidet, der sich Gott gegenüber sieht und versucht, für sich ein gottgefälliges Leben zu führen, gerät die Gemeinde selber zu schnell aus dem Blick und damit auch viel von dem, was Kirche öffentlich sichtbar macht. Die katholische Kirche dagegen kann mit ihrer größeren Sichtbarkeit, also mit ihren Prozessionen, ihren Segnungen, den liturgischen Handlungen im Gottesdienst, die Gemeinschaft viel deutlicher ausdrücken.

In Dinslaken wird diese Gemeinsamkeit seit langem gelebt.

Schneider Wir haben uns bei kirchlichen Aktivitäten immer gefragt, ob wir das zusammen machen können und wenn wir das gemeinsam machen konnten, haben wir es getan. So habe ich zum Beispiel die Kinderbibelwoche nach Dinslaken gebracht, die damals eine rein evangelische Angelegenheit war. Wir führten sie in Dinslaken ökumenisch durch und waren damit Vorreiter. Wir begeisterten damit über Jahrzehnte viele Kinder. Das ging so weit, dass die Eltern Probleme hatten, in den Herbstferien mit ihren Kindern in Urlaub zu fahren, weil die viel lieber zur Kinderbibelwoche wollten.

Jenseits aller theologischen Fragen des Zusammenlebens der Kirchen finde ich es spannend, wie - von Luther ausgehend - der Protestantismus viele Felder des gesellschaftlichen Zusammenlebens beeinflusst und so durchdrungen hat, dass das auch für Katholiken ganz selbstverständlich ist und sie gar nicht mehr reflektieren, dass Luther den Anstoß zu diesen Entwicklungen gegeben hat, dass er eine kulturelle Revolution in diesem Land ausgelöst hat. Ich nenne als Beispiel die Tradition des deutschen Stadttheaters, die immer noch geprägt ist von Gottsched und Lessing, beide Pfarrerssöhne, aufgewachsen in einem protestantischen Pfarrhaus. Wir können auch die Musik nehmen. Luther hat den deutschen Kirchengesang erfunden. Seitdem ist Musik nicht mehr nur mehr schmückendes Beiwerk, frömmelnde Lobpreisung, sondern auch Verkündigung durch das gesungene Wort.

Schneider Luthers Wirkungsgeschichte ist tatsächlich enorm. Wenn wir an die Anfänge denken, dann sehen wir in Luther einen gehorsamen Mann der Kirche, der in gar keiner Weise daran dachte, Kirche zu spalten oder eine neue Kirche auf den Weg zu bringen, sondern der Wege gewählt hat, die geeignet waren, innerkirchlich Kritik anzumelden und Missstände anzusprechen. Die katholische Kirche in der Zeit war in einem derart desolaten Zustand, dass das überfällig war und dann kamen, was die Wirkungsgeschichte angeht, sicherlich einige Dinge von außen dazu, die das Ganze enorm beschleunigt haben. Ich denke an Johann Gutenberg mit dem Buchdruck. Auf einmal wurden Schriften nicht nur an Kirchentüren geheftet, sondern fanden große Verbreitung. Dazu diese unfassbare Leistung Luthers mit der Bibelübersetzung, wobei für ihn ja dahinter das Verständnis stand, dass die Bibel ein so wichtiges Buch ist, dass es jeder selber lesen muss - also nicht nur durch Dritte gefiltert von dieser frohen Botschaft hört. Die Entwicklung der Kirchenmusik in diesem Zusammenhang lässt sich gar nicht hoch genug einschätzen. Luther hat da - ich denke etwa an Bach - enorm viel Potenzial bei Kirchenmusikern freigesetzt in Blick auf Kirchenlieder und Choräle. Und das evangelische Pfarrhaus, das ja etwa ganz Neues war, hat eine herausragende Wirkungsgeschichte entfaltet. Es hat ein Bildungsbürgertum ermöglicht, dem - da ließen sich außer Gottsched und Lessing noch viele Namen nennen - großartige Kinder erwachsen sind.

Die Familie, wie sie in einem evangelischen Pfarrhaus zu finden war, war natürlich der beste Ort, auch allgemeine pädagogische Grundsätze weiterzugeben. Solch eine Familie stand katholischen Pfarrern nicht zur Verfügung. Ist das aus Ihrer Sicht ein Grund dafür, dass der Protestantismus seine gesellschaftliche Wirkung entfalten konnte?

Schneider Luther hat ja für diese Erziehung die Grundlagen gelegt, in dem er den Katechismus geschrieben hat. Dabei ging es ihm darum, in damals kindgemäßer Form in die Mitte des Evangeliums zu führen. Das prägt Kinder, die in einem Pfarrhaus aufwachsen, bis heute. Ich wünschte mir, dass solche Kinder auch offiziell aus katholischen Pfarrhäusern kämen. In Blick auf den Zölibat bin ich im Januar sehr hellhörig geworden. Da wurde eine Gruppe von katholischen Geistlichen in Köln pensioniert, und die haben dann an den Kardinal geschrieben und beschrieben, dass sie sich, nachdem sie sich von der Gemeinde verabschiedet haben, als einsame alte Männer empfinden, denen die Einsamkeit sehr zu schaffen macht, und dass sie bedauern, dass sie nie die Möglichkeit hatten, eine Familie zu gründen und in anderen Lebensbezügen zu leben. Diese Priester meinen, dass es an der Zeit wäre, auf den Zölibat zu verzichten. Ich denke nicht, dass jeder katholische Priester - auch nicht jeder evangelische - heiraten muss, aber wer eine solche Lebensform mit dem Beruf verbinden will, sollte dazu die Möglichkeit haben - gerade auch mit Blick darauf, was wir zum Thema Pfarrhaus und Pfarrerskinder besprochen haben.

Abgesehen von allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklungen hat der Protestantismus auch einen immensen politischen Einfluss genommen und den gerade in der Bundesrepublik ausgebaut. Der Spiegel hat in seinem Sonderheft zu Luther von der "Deutschen Protestantischen Republik" gesprochen. Die Kanzlerin kommt aus einem evangelischen Pfarrhaus, der aus dem Amt geschiedene Bundespräsident ist evangelischer Pfarrer, sein Nachfolger aktiv in der evangelischen Kirche, von allen bisherigen Bundespräsidenten waren nur zwei katholisch. Es ließe sich eine ganz Reihe von evangelischen Geistlichen aufzählen, die es in hohe politische Ämter geschafft haben. Sie selbst sind in der Kommunalpolitik engagiert. Gibt es einen direkten Zusammenhang zwischen evangelisch sein und politisch, auch parteipolitisch zu agieren.

Schneider Es ist schon sehr auffällig, dass gerade im politischen Raum die evangelischen Christen eher tätig sind und waren. Aus meiner Sicht ist es so, dass die Verkündigung herausfordert, politisch wach zu sein. Es ist nicht damit getan, dass die Botschaft verkündet wird, sie will auch gelebt werden. Sie muss auch in politischen Strukturen wiederzufinden sein, wenn es beispielsweise um den Widerstand gegen das Unrecht geht, um Solidarität und Nächstenliebe. Für mich selber konnte ich das noch nie trennen - meine theologische Überzeugung und meine politische Arbeit. Ich war immer auch politisch tätig. Hier in Dinslaken in der Gemeinwesenarbeit, ob es um Umweltfragen ging oder in den 80er Jahren um den Nato-Doppelbeschluss und das "Schweigen für den Frieden", zu dem wir viele Jahre vor der Stadtkirche zusammengekommen sind - das übrigens ökumenisch mit Bernhard Kösters. Wenn wir dann da gestanden und unser Transparent gehalten haben - mit einem Satz aus dem Buch Micha "Sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen . . ." - dann haben wir gemerkt, dass es manchen Gemeindemitgliedern, ob nun katholisch oder evangelisch, peinlich war, dass ihre Geistlichen sich so exponiert auf die Straße stellten. Das zeigte einerseits das Bewusstsein, dass sich Kirche aus der Politik besser raushalten sollte und andererseits zeigte es aber auch, dass Kirche und öffentliches Wirken zusammengehören und zwei Seiten einer Medaille sind.

Liegt es vielleicht auch daran, dass sich der Protestantismus über die reine Glaubenshaltung zu einer allgemeinen Geisteshaltung entwickelt hat, die auch Katholiken oder Atheisten antreiben kann, sich zu engagieren und damit im Lutherischen Sinne in der Welt zu sein.

Schneider Ich glaube, das ist so. In der evangelischen Kirche ist zum Beispiel - gerade auch durch den leider viel zu früh verstorbenen Präses Peter Beier - die Diskussion über die Veränderungen des Klimas und das, was dies für den Fortbestand der Welt bedeutet, sehr vorangetrieben worden. Das ist dann gemündet in Aktionen zur Bewahrung der Schöpfung, die die Augen dafür geöffnet haben, dass wir mit der Erde so umzugehen haben, dass sie noch für zukünftige Generationen bewohnbar bleibt. Dabei zeigte sich, wie ein im Grunde theologisches Anliegen in der Politik handfest Niederschlag finden muss. Das ist nur ein Beispiel für viele, von denen ich sicher bin, dass Theologie und Spiritualität nicht in den luftleeren Raum gehören, sondern aufmerksam sind für die Gesichter der Menschen, ihre Leiden, ihr Glück. Gerechtigkeit, Erbarmen und Gotteserkenntnis sind untrennbar miteinander verbunden.

Was das direkte Einmischen in politische Fragen angeht, scheint sich auch in der katholischen Kirche etwas zu ändern, seit Papst Franziskus im Amt ist, der im Gegensatz zu vielen seiner Amtsvorgängern in politischen Fragen vielfach kein Blatt vor den Mund nimmt.

Schneider Ich finde, da ist extrem viel in Bewegung geraten, und für diesen Papst können wir nur dankbar sein, weil er das Papstsein auf eine sehr glaubwürdige Art lebt. Er ist auch für uns evangelische Christen ein wichtiger Mann - so etwas wie ein Weltpastor.

Teilen Sie das Gefühl, dass es auch wegen dieses Papstes zurzeit eine positive Stimmung gibt, wenn es um die Frage geht, ob sich die katholische und die evangelische Kirche wieder zusammenführen lassen?

Schneider Meiner Meinung nach existiert diese Einheit. Wir haben die eine Kirche, einen Glauben, eine Taufe, wir haben den einen Herrn, Jesus Christus, und das, was er uns an Erlösung geschenkt hat. Der Theologe Fulbert Steffensky hat im Januar im Gemeindehaus in einem Vortrag gesagt, der Skandal ist nicht, dass die eine Kirche noch nicht da wäre, sondern die Behauptung, die Kirchen seien getrennt, und man dürfe das Abendmahl nicht zusammen feiern. Das wäre der nächste logische Schritt. Auch dass konfessionsverschiedene Ehepartner gemeinsam Abendmahl feiern können in der einen oder der anderen Kirche. Einheit ist für mich versöhnte Verschiedenheit. Ich möchte gerne, dass die katholische Kirche ihre Stärken behält und so katholisch ist, dass jeder sofort weiß: Das ist katholische Kirche, das ist katholisches Handeln, katholisches Verständnis, ob das Allerheiligen ist, die Gemeinschaft der Heiligen überhaupt, ob die Verehrung Marias - all das ist gut katholisch und soll bleiben. Auch der Protestantismus mit seiner Stärke soll bleiben. Ich komme in eine Kirche und sehe, das ist eine evangelische Kirche. Der Kirchenraum hat eine klare und einfache Struktur. Die Kanzel ist die zentrale Stelle, darunter der Altartisch. Alles zielt auf Wort und Sakrament, also auf Predigt und Heiliges Abendmahl. Die Verschiedenheit ist der Reichtum und nicht ein zu behebender Mangel. Was wäre das für ein Verlust, wenn Riten und Frömmigkeitsstile der Orthodoxen, der Reformierten, der Lutheraner und der Katholiken nicht wiederzuerkennen wären. In der einen Kirche werden verschiedene Dialekte gesprochen, und die sind darin eins, dass sie wissen, woran sie glauben und seit Ostern hoffen, oder, wie Steffensky sagt: "Denn an einem hat sich der Tod schon einmal die Zähne ausgebissen. Es ist schon ein Anfang gemacht, der unser eigener Anfang ist."

DAS GESPRÄCH FÜHRTE JÖRG WERNER

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort