Kolumne Neu In Der Stadtbibliothek In einem Ferienhaus tun sich finstere Abgründe auf

Dinslaken · Daniel Kehlmann gehört seit seinem überraschenden literarischen Welterfolg "Die Vermessung der Welt" 2005 zu den wichtigsten und erfolgreichsten Autoren der Gegenwartsliteratur. In seiner neuen Erzählung "Du hättest gehen sollen" lösen sich die vertrauten Lebensbedingungen und Konturen einer "vermessenen Welt" nach und nach wieder auf, und es öffnen sich finstere Abgründe.

Die Erzählung beginnt zunächst ganz realistisch mit der einfühlsamen Schilderung des Kriselns einer Ehe und verwandelt sich unversehens in ein beklemmendes Horrorszenario. Ein erfolgreicher Drehbuchautor, Anfang 40, hat sich mit seiner Frau Susanna, einer Schauspielerin, und ihrer gemeinsamen kleinen Tochter Esther für einige Dezember-Tage in ein abgelegenes Ferienhaus eingemietet, das hoch oben in den Alpen liegt und zum nächsten Dorf nur über eine lange Serpentinenstraße erreichbar ist. Der Drehbuchautor und Ich-Erzähler ist auf der Suche nach Einfällen für das Drehbuch eines neuen Films, das Paar streitet sich um Nichtigkeiten und die vierjährige Tochter hört nicht auf zu quengeln.

Die Notizen, die sich der Autor für sein neues Film-Projekt macht, werden mehr und mehr verdrängt von irritierenden Wahrnehmungen und seltsamen Vorgängen in diesem Haus.

Als der Autor dann per Zufall auf dem Handy seiner Frau auf verliebte Botschaften eines anderen Mannes stößt und Susanna, zur Rede gestellt, nach einem erbitterten Streit das Haus verlässt, werden die spukhaften Erscheinungen immer bedrängender: Bilder hängen plötzlich dort, wo vorher keine waren, Türen führen zurück in den Raum, den man gerade verlassen hat, und die nächtliche Flucht ins Dorf führt auf verschlungenen Wegen geradewegs wieder in das Spukhaus zurück. Alles, was die Rationalität und Verlässlichkeit unserer modernen Lebenswelt ausmacht, beginnt an diesem fernen Ort wegzubrechen - bis sich am Ende für den Drehbuch-Autor der Boden auftut.

Der Leser gerät in Kehlmanns atmosphärisch dichter Erzählung unweigerlich in den Bann dieses immer weiter um sich greifenden Wirklichkeits- und Orientierungsverlustes - dafür sorgt die kluge Komposition dieser suggestiv erzählten und anspielungsreichen Horrorgeschichte. Auch wenn einige Kritiker Kehlmanns neuer Erzählung mangelnde Anschaulichkeit und Originalität vorwerfen, halte ich sie für brillant gemacht und als spannende Lektüre mit intellektuellem Anspruch für sehr empfehlenswert.

DR. RONALD SCHNEIDER

Kehlmann, Daniel: Du hättest gehen sollen, Rowohlt Verlag: 2016.

(RP)
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