Buch der Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor Islamismus war immer eine Randerscheinung

Dinslaken · Lamya Kaddor unterrichtet unter anderem an der Friedrich-Althoff-Sekundarschule in Dinslaken. Sie hat erlebt, dass fünf ihrer Schüler in den Dschihad zogen. In ihrem neuen Buch geht sie den Ursachen dafür nach, die dazu führen, dass sich deutsche Jugendliche radikalisieren und den Salafisten auf den Leim gehen.

 Die Autorin Lamya Kaddor.

Die Autorin Lamya Kaddor.

Foto: privat

Sie ist Pionierin der Islamischen Religionspädagogik in Deutschland und wurde zu einer der zehn einflussreichsten muslimischen Frauen Europas gewählt. Sie ist Gründungs-Vorsitzende des Liberal-Islamischen Bundes, wurde 1978 als Tochter syrischer Einwanderer im westfälischen Ahlen geboren und lebt in Duisburg.

Frau Kaddor, Sie stellen Ihrem neuen Buch das Motto voran "Es gibt keine Zufälle". Einige Seiten später schreiben Sie, dass die Tatsache, dass Dinslakens Stadtteil Lohberg den Ruf erworben hat, "Hochburg des gewaltbereiten Salafismus" zu sein mehr oder weniger dem Zufall geschuldet ist. Das ist aber, wie Ihr Buch zeigt, nur scheinbar ein Widerspruch.

Lamya Kaddor Ja, die Ereignisse in Lohberg waren so nicht unbedingt zu erwarten. Aber Lohberg bringt natürlich bestimmte Voraussetzungen mit, die solche Radikalisierungsprozesse begünstigen können: die sozial sehr prekäre Lage der Einwohner in Lohberg. Dort lebt eine überwiegend bildungsferne Schicht, die im Wesentlichen einen Migrationshintergrund hat, und wir wissen, dass es Kinder unter solchen Bedingungen im Leben schwieriger haben.

Das trifft aber auf viele Kommunen in Deutschland zu.

Kaddor Ja, deswegen ist das, was in Lohberg geschehen ist, ja eigentlich ein Zufall, aber noch einmal: die Voraussetzungen dafür sind sehr günstig. Und dann gab es eben einen Faktor, der das nicht mehr zum Zufall gemacht hat. Das waren Personen, die junge Menschen um sich geschart haben, um so eine Art privaten Islamunterricht zu etablieren. Das hätte auch in jedem anderen deutschen Stadtteil geschehen können. Ich will gar nicht sagen, dass diese Personen dafür gesorgt haben, dass die Mitglieder der sogenannten Lohberger Brigade in den Dschihad nach Syrien gezogen sind, aber den Einstieg bereitet, haben sie ganz sicher. Dieser Zirkel wurde dann irgendwann zu einem Selbstläufer.

In Ihrem Buch schreiben Sie, dass die Voraussetzungen zur Radikalisierung, wie sie in Lohberg aber auch anderswo vorliegen, zunächst einmal nichts mit der Religion zu tun haben.

Kaddor Nein, das sind soziale Probleme. Wir haben es in erster Linie mit sozialen Herausforderungen zu tun. Die Religion spielt zunächst keine Rolle. Diese Probleme gibt es auch bei Jugendlichen, die nicht muslimischer Herkunft sind. Die können genauso abdriften. Die driften dann vielleicht nach rechts ab. Lohberg ist ein Stadtteil, der eben ganz viele Seelen beherbergt, die es schwer haben, sich in dieser Gesellschaft zu verorten. Das verursacht ganz allgemein Integrationsprobleme. Die Jugendlichen bekommen das Gefühl vermittelt, dass sie die Looser der Gesellschaft sind. Das beginnt schon ganz früh. Ich habe eine Zeit lang auch an einer Grundschule unterrichtet. Auch kleine Kinder, besonders die mit Migrationshintergrund, spüren das sofort. Sie wissen, dass sie schlecht deutsch sprechen, sie wissen aber auch, dass sie zum Beispiel sehr schlecht türkisch sprechen. Sie erleben, dass sie aufgrund ihres Sozialverhaltens, aufgrund ihrer Disziplinprobleme, ihrer mangelnden Sprachfähigkeiten benachteiligt sind. Aus dieser Erfahrung der Ausgrenzung heraus, in die Pubertät zu kommen, das ist ganz schwierig. Hier haben natürlich in erster Linie die Eltern versagt. Das darf man nicht verschweigen. Den Familien, aus denen die Kinder so abgedriftet sind, wie wir das erlebt haben, ist es nicht gelungen, ihnen genügend Aufmerksamkeit, Anerkennung und Halt zu geben.

Fakten zum Salafismus in Deutschland
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Ist also das Problem des Abdriftens, der Radikalisierung ein gesamtgesellschaftliches Problem? In Ihrem Buch beschreiben Sie es als eine Form des Jugendprotests.

Kaddor Ja, wenn Jugendliche das erleben, führt es zu Protest, zu Rebellion. Und hier sind die Möglichkeiten für muslimische Jugendliche nicht mehr so breit gefächert. Ein junger Muslim kann sich schlecht nach rechts orientieren, Neonazis nehmen diesen in der Regel nicht auf. Und da hat der politische Salafismus eine Nische für sich entdeckt. Mit dem Angebot, nämlich ihnen Anerkennung, Zuwendung und Orientierung zu bieten, kriegen diese Menschenfänger die Jugendlichen. Im Gegenzug werden die Jugendlichen manipuliert. Das sind exakt die gleichen Mechanismen, die sich Rechtsextreme zu Nutzen machen. Insofern würde ich den Salafismus jetzt gar nicht so besonders herausstellen. Er ist nur besonders, weil wir jetzt einmal unsere Aufmerksamkeit darauf gerichtet haben. Im Vergleich zum Rechtsextremismus, der zahlenmäßig in Deutschland eine ganz andere Dimension hat, ist der Salafismus ein relativ neues Phänomen. Neu ist, dass sich Jugendliche einer ideologischen Subkultur anschließen, die sich auf eine Religion gründet. Dieses Phänomen muss natürlich weiter untersucht werden.

Sie unterrichten ja selbst islamische Religion. Wie wichtig ist es, dass muslimische Jugendliche Angebote bekommen, sich mit ihrer Religion zu beschäftigen, um sie davor zu bewahren, den politischen Salafisten auf den Leim zu gehen?

Kaddor Wir wissen, dass Jugendliche, die sich der muslimischen Religion zugehörig fühlen, von sich sagen, dass sie stolz sind, Muslime zu sein. Das ist ein ganz wichtiger Identitätsfaktor für sie. Wir müssen fragen, warum das so ist und wenn das so ist, was wir tun können, damit die Jugendlichen eine gesunde Identitätsbildung aus dem Islam vollziehen können. Wenn ich nach dem Warum frage, stelle ich häufig fest, dass es für die Jugendlichen ja häufig gar nicht so einfach ist, sich anders zu identifizieren. In Deutschland sind sie keine Deutschen, egal ob sie in der dritten oder vierten Generation hier geboren sind. Ihnen wird es unmöglich gemacht, einen Platz in der Gesellschaft zu finden, weil ihnen immer gesagt wird, dass sie fremd sind, dass sie nicht hierher passen. Sie sind aber auch in den Herkunftsländern ihrer Eltern keine Inländer mehr, sie sind in der Türkei keine Türken, sie sind in Bosnien keine Bosnier, sie sind in Pakistan keine Pakistani. Sie suchen sich also einen anderen Faktor, mit dem sie sich identifizieren können. Und das ist der Islam. Ihre islamische Glaubenszugehörigkeit kann ihnen niemand absprechen. Es gibt einen überlieferten Ausspruch des Propheten. "Ein Muslim hat nicht das Recht, einem anderen Muslim seinen Glauben abzusprechen." Damit ist der Islam für die Jugendlichen ein sicherer Rückzugsort, um sich eine Identität aufbauen zu können. Wenn wir hier jetzt weiter dafür sorgen, dass wir diese Jugendlichen an den Rand drängen und ihnen klarmachen, dass sie nicht zum "Wir" gehören, dann dürfen wir uns nicht wundern, dass diese Jugendlichen dann den Islam als identitätsstiften erachten, obwohl sie vielfach keinen Schimmer davon haben. Das ist ja, das sage ich als islamische Religionslehrerin, das Frustrierende: die Jugendlichen sagen, dass sie Muslime sind, wenn ich sie aber frage, wie sich ihrer muslimisches Weltbild zusammensetzt, bekomme ich keine Antwort.

Sie warnen in diesem Zusammenhang in Ihrem Buch vor einer Radikalisierungsspirale. Was verstehen Sie darunter?

Chronologie des Terrors von Paris
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Kaddor Ich fürchte, dass sich das weiter hochschaukelt, dass sich andere Jugendliche diese radikalisierten Jugendlichen zum Vorbild nehmen — nach dem Motto "In dieser Gesellschaft gelten wir nichts, es gibt eine Alternative. Wir können vielleicht in Syrien gut leben, weil wir dort anerkannt werden, Hier werden wir es jedenfalls nicht". Es gibt eine innere Zerrissenheit, die mir auch bei bei erwachsenen Muslimen immer wieder begegnet, diese Zerrissenheit sich einerseits immer als Opfer zu fühlen, es ja auch zu sein, aber gleichzeitig auch immer zu den Tätern gezählt zu werden. Das ist ein so großer Widerspruch, dass der auch für erwachsene Muslime kaum aufzulösen ist. Sie bräuchten Ansprechpartner — Lehrer, Imame, Pädagogen, Sozialarbeiter, die diesen Widerspruch mit ihnen bearbeiten. Erwachsene reagieren häufig mit Frust und sagen, ich grenze mich jetzt ab, ich habe gar keine Lust mehr, mich auf diese Islamdebatte einzulassen, die ständig nur darauf pocht, dass wir Täter sind, obwohl wir uns selber als Opfer wahrnehmen. Junge Menschen in der Situation sind natürlich für Rattenfänger ein gefundenes Fressen. Denen sagt ein Salafist dann, dass es alle doof finden, dass du Muslim bist, das wissen wir auch, aber bei uns ist es wunderbar, dass du ein Muslim bist. Diese Aufwertung erleben die Jugendlichen woanders nicht.

Hat diese Radikalisierungsspirale auch damit zu tun, dass durch Attentate, wie beispielsweise das in Paris, die antiislamischen Tendenzen in unserer Gesellschaft deutlich steigen und damit die Muslime noch weiter an den Rand gedrängt werden?

Kaddor Ja, es gibt eine Wechselwirkung zwischen Islamfeindlichkeit und Islamismus. Es geht dabei gar nicht mehr allein um den Salafismus als islamistische Ideologie, sondern es geht um den Fundamentalismus insgesamt. Je stärker wir islamistische Strömungen wahrnehmen und je stärker sie werden, desto stärker wird natürlich die Gegenbewegung, die sich dann zum Beispiel in der "Pegida"-Bewegung zeigt, die sich dann auch in Überfällen auf muslimische Einzelpersonen zeigt. Hier wird auch kein Unterschied zwischen Islam und Islamismus gemacht. Und je stärker die Islamophobie in Deutschland wird, desto stärker wird dann auch die Gegenreaktion der Islamisten. Islamismus und Islamophobie, sind zwei Seiten derselben Medaille. Hier muss die Politik sich positionieren. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sich jetzt positioniert, in dem sie sagt, der Islam gehört zu Deutschland, wir brauchen hier aber keinen Salafismus, genauso wenig wie wir hier Islamhasser brauchen.

Wo Sie gerade "Pegida" angesprochen haben, da erleben die Menschen einen katholischen Priester, der bei einer "Pegida"-Kundgebung in Duisburg auftritt. Die Reaktion des Bischofs kommt prompt. Er macht dem Priester eindeutig klar, dass das nicht mit der Lehre der katholischen Kirche vereinbar ist. Haben Sie Verständnis dafür, dass Nicht-Muslime in dieser Gesellschaft ähnlich klare Ansagen auch von den offiziellen Vertretern des Islams erwarten, wenn es um Islamismus und Salafismus geht?

Kaddor Ich finde diese Ansagen kommen inzwischen. Tatsächlich mussten sich muslimische Vereinigungen und Organisationen lange zurecht den Vorwurf gefallen lassen, dass sie zu wenig tun — das habe ich ja selber oft genug so formuliert — aber gerade in letzter Zeit erkennen die Vertreter der Muslime, dass sie etwas machen müssen. Es gab diese Mahnwache am Brandenburger Tor, es gibt von allen muslimischen Vereinigungen in Deutschland, von Privatpersonen, von muslimischen Professoren, eindeutige Erklärungen und Positionierungen. Den Vorwurf, dass wir Muslime nichts tun, kann ich so nicht mehr stehen lassen und empfinde ihn inzwischen als unverschämt.

Hat es vielleicht auch damit zu tun, dass Katholiken mit Kirche andere Hierarchien verbinden, die der Islam gar nicht kennt? Sie empfehlen in Ihrem Buch, dass unsere Gesellschaft die "katholische Brille" abnehmen sollte.

Kaddor Man darf nicht erwarten, dass der Islam kirchliche Strukturen entwickelt, die so gar nicht in ihm angelegt sind. Das ist die eine Sache. Die andere Sache ist die Frage danach, mit welchem Recht man mit solchen Forderungen an die Muslime herantritt. Ich habe große Schwierigkeiten damit, wenn man uns erklären will, wie wir unseren Glauben zu verstehen haben. Wenn man das im Dialog macht, also auf Augenhöhe, kann das gerechtfertigt sein. Aber wenn man uns über die Medien in Interviews erklärt, dass im Islam einiges an Reformbedarf besteht und dass wir uns mit dem Thema "Gewalt" auseinandersetzen müssen, wird es anstrengend. Der Islam hat sich seit Jahrhunderten mit dem Thema "Gewalt" auseinandergesetzt. Das Problem ist nur, dass das hier niemand weiß, weil kaum jemand die Schriften lesen kann und alle denken, dass ist ein neues Phänomen. Den Islamismus gab es schon sehr früh in der islamischen Theologie und in der islamischen Geschichte. Er war aber immer eine Randerscheinung.

Sie schreiben, dass der Islam im Grunde eine realistische Position zum Thema "Gewalt" vertritt, weil er sich damit insofern auseinandersetzt, dass er dezidiert Regeln zum Umgang mit Gewalt festlegt.

Kaddor Gewalt ist im Islam viel stärker reglementiert und kanalisiert. Deswegen hat der Islam einen pragmatischeren Umgang mit Gewalt. Das, was heute Islamisten im Namen des Islams machen, dass lässt sich aus deren Sicht vielleicht zurückführen auf die Frühzeiten des Islams, aber man vergisst dabei völlig, dass durch die Jahrhunderte hinweg diese Art von Strafen kaum angewandt wurde. Dass das jetzt wieder hochkommt und dass das als "der Islam" dargestellt wird, ist einfach ungerechtfertigt. Man sieht doch, dass die Gewalttäter im Irak oder Syrien auch gar keinen Halt vor Muslimen selber machen. Von dem jordanischen Piloten, der jetzt umgebracht worden ist, gibt es Bilder, die ihn bei der Wallfahrt in Mekka zeigen. Den Gewalttätern vom selbst ernannten Islamischen Staat (IS) ist das völlig egal. Denen geht es nur darum, ihre Macht zu demonstrieren und die Welt in Schrecken zu versetzen. Der Islam wird hier schlicht und einfach für machtpolitische Interessen missbraucht.

Christen können in Sachen Gewalt ja auch einiges an historischer Erfahrung beisteuern — Kreuzzüge, Inquisition, Hexenverbrennung . Geht es nicht immer auch darum, wer in einer Religion die Deutungshoheit hat?

Kaddor Ja natürlich, aber wir wissen auch alle, dass der IS niemals die Deutungshoheit im Islam für sich reklamieren kann. Das ist einfach unmöglich. Dafür ist die islamische Welt viel zu groß — denken Sie alleine an Indonesien. Wie soll der IS jemals nach Indonesien kommen? Er schafft es ja schon jetzt nicht mehr, sich weiter auszubreiten. Und das ist auch gut so.

Aber es ist schon eine gemeinsame Aufgabe der Muslime, darauf zu achten, dass es nicht weiter in diese Richtung geht.

Kaddor Selbstverständlich. Und es gibt ja auch genügend Äußerungen von Theologen, Institutionen oder anderen Persönlichkeiten, die klar machen, dass diese Verbrechen heute nicht mehr als islamisch angesehen werden können. Sie widersprechen dem Kern der islamischen Ethik in ganz eklatanter Weise, indem Regelungen und Normen, die vor 1400 Jahren in einer Stammesgesellschaft galten, für zeitlos erklärt werden, um sie dann selbst so zu pervertieren, dass sie dem eigenen Machterhalt dienen. Selbst der Iran hat sich nach dem Attentat von Paris in der Pflicht gesehen, hier Position zu beziehen. Aber natürlich werden sie die gewalttätigen Ideologen nicht überzeugen können.

Was kann denen der Islam den überhaupt entgegensetzen?

Kaddor Für diese Verbrecher wohl nichts. Mit theologischen Argumenten können Sie nichts erreichen. Auf ein politisches Statement kann man nur politisch antworten. Das sind keine religiösen Auseinandersetzungen, in denen es etwa darum geht, ein anderes Islamverständnis durchzusetzen. Es geht um Politik und um Macht. Von Seiten der Theologie kann man höchstens überlegen, was man tun kann, um die Menschen weiter aufzuklären. Den IS werden sie religiös aber nie überzeugen können.

Was man aber tun kann, dazu soll ja auch ihr Buch dienen, ist zu versuchen, Jugendliche davor zu schützen, in die Fänge der salafistischen Ideologen zu geraten.

Kaddor Ja, indem man ihnen die Hintergründe klar macht, ihnen erklärt, dass es eben nicht um Religion geht, dass es nur darum geht, dass diese Ideologen die Jugendlichen als Kanonenfutter missbrauchen. Wir müssen den Jugendlichen erklären, dass es nicht den einen wahren Islam gibt. Dazu brauchen wir die Imame, die das in den Moscheen predigen, wir brauchen die Eltern und deswegen brauchen wir auch den islamischen Religionsunterricht, in dem wir versuchen müssen, die Jugendlichen zu befähigen, selbstständig über ihre Religion nachzudenken. Dazu reicht es aber nicht, Schüler mal ein Jahr lang zu unterrichten. Dieser Unterricht muss durchgängig über die gesamte Schullaufbahn erfolgen. Solange wir aber nur an 200 Schulen in Nordrhein-Westfalen islamischen Religionsunterricht anbieten und damit nur 10 000 Schüler — 10 000 von insgesamt 350 000 muslimischen Schülern — ist das ein Tropfen auf den heißen Stein. Da muss man tatsächlich viel Geld in die Hand nehmen — und nochmal: der islamische Religionsunterricht allein reich nicht. Die Gesamtgesellschaft muss begreifen, dass sie in der Verantwortung steht. Sozialarbeiter, Lehrerkollegien, natürlich die Eltern müssen für das Thema sensibilisiert sein, damit wir rechtzeitig erkennen, wenn Jugendliche in der Gefahr sind abzudriften. Im Prinzip betrifft es uns alle. Wir sollten wissen, was ist Salafismus, was wollen politische Salafisten von unseren Kindern. Denn in Gefahr ist erstmal jedes Kind und jeder Jugendliche, egal ob Muslim oder nicht, das zeigen ja die Beispiele der vielen Konvertiten. Den Salafisten ist völlig egal, ob jemand Muslim ist oder nicht. Die schauen sich an, wer die günstigste Psychostruktur mitbringt, um ihn einfangen zu können.

Auch wenn Sie sagen, dass vieles nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist, gibt es ja auch Erfolge zu vermelden. Den harten Kern der Lohberg Salafisten gibt's in der Form nicht mehr.

Kaddor Ja, aber auch weil viele von ihnen schon nach Syrien gegangen sind und einige dort den Tod gefunden haben. Aber in der Tat, die Stadt hat das Problem erkannt und geht dagegen vor. Ich habe ja auch selbst ein Präventionsprogramm hier in Dinslaken durchgeführt. "Extrem out" hieß es. Aber auch das müsste sehr viel öfter hier stattfinden. Es müsste bundesweit stattfinden. Wir brauchen Programme, die in Fläche gehen. Punktuell kann man viel tun, aber das ist eben nicht nachhaltig. Darum aber muss es gehen. Da stehen wir alle noch vor ganz vielen offenen Fragen. Ich erhalte zurzeit eine Vielzahl von Anfragen aus den unterschiedlichsten Bereichen, die sich über das Thema informieren wollen. Das zeigt, dass wir noch ziemlich am Anfang stehen. Das zeigt aber auch, dass wir langsam begreifen, welche Defizite wir in der Debatte haben. Es wird noch dauern, bis wir genügend sensibilisiert sind und ausreichend Gegenangebote schaffen können, aber der Wille, anders auf die Muslime zu gucken, ist offenbar da. Dennoch bin ich keine Schwarzmalerin. Ich sehe auch positive Entwicklungen. Wir müssen sehen, dass wir dieses Phänomen so schnell wie möglich in den Griff bekommen, auch wenn wir es nie vollständig eindämmen können, ähnlich wie uns das auch mit dem Rechtsextremismus nicht gelingt.

Sind diese positiven Entwicklungen aber nicht auch sehr gefährdet? Sie stellen in Ihrem Buch ja auch die Frage, was passiert, wenn einmal in Deutschland ein Anschlag wie in Paris passiert.

Kaddor Es ist, glaube ich, eine Frage der Zeit, wann das passiert. Irgendwann wird es uns auch treffen. Ich mag es mir kaum ausmalen. Die Vermutung liegt nahe, dass wir in Hysterie verfallen. Ich warne davor, dass das passiert. So schlimm das sein wird, müssen wir weiter das Ziel verfolgen, dieser Gewalt etwas entgegenzusetzen. Wir brauchen keine Stimmen, die noch weiter Hetze betreiben. Die Hochjahre der Islamfeindlichkeit hier in Deutschland waren die Jahre 2005 bis 2009. Wenn Sie sich da die Cover der großen Zeitschriften angucken, dann finden Sie Schlagzeilen wie "Mekka Deutschland", "Die stille Islamisierung" oder "Koran, das mächtigste Buch der Welt". Davon sind wir jetzt schon — bis auf einige Ausnahmen — ein Stück weit weg. Wir fangen an zu differenzieren und sehen, dass es auch etwas dazwischen gibt, zwischen Islamfeindlichkeit und Islamismus — nämlich die normalen Muslime. Im Moment habe ich jedenfalls die Hoffnung, dass die Menschen hier auch im Falle eines Attentats nicht in totale Hysterie verfallen werden.

JÖRG WERNER FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

(RP)
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