Neu In Der Stadtbibliothek Ist unsere Lebensgeschichte nur eine Fiktion?

Dinslaken · Peter Stamm, 1963 im Thurgau geboren, ist ein auch international erfolgreicher Schweizer Schriftsteller, dessen Erzähldebüt "Agnes" von 1998 es in Deutschland sogar zur Schul-Pflichtlektüre geschafft hat. Sein neuer Roman "Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt" erzählt auf kunstvoll verschlungene Weise die Lebensgeschichte Christophs, eines Schweizer Schriftstellers um die 50, der immer wieder einem Doppelgänger aus seinem früheren Leben zu begegnen glaubt.

Christoph hatte in noch jungen Jahren mit seinem ersten, stark autobiografischen Roman auf Anhieb Erfolg, konnte aber nie wieder daran anknüpfen und ist jetzt, mit 50 Jahren, als Schriftsteller so gut wie vergessen. In Stockholm begegnet er der 20 Jahre jüngeren Schauspielerin Lena, die seiner früheren Geliebten Magdalena verblüffend ähnlich sieht. Er erzählt ihr nach und nach seine Lebensgeschichte: von Magdalena, der großen, gescheiterten Liebe seines Lebens, von seinem Buch und von den unheimlichen Begegnungen mit seinem 20 Jahre jüngeren Alter Ego Chris, der nicht nur sein eigenes Leben wiederholt (und damit seine eigenen Lebensspuren löscht), sondern auch noch der Lebensgefährte Lenas ist.

Der Leser wird in diesem fantastischen Roman mit philosophischem Tiefgang von Anfang an mit hinein gezogen in ein Verwirrspiel zeitversetzter Spiegelungen eines gescheiterten Lebens - bis er den Boden unter den Füßen zu verlieren droht. Doch je länger man liest, umso klarer wird Ausgangssituation dieses suggestiven Erzählexperiments: Ein Mann in einer Lebenskrise rekapituliert seine Leben und fragt nach den Freiheitsspielräumen, die er hatte und die er möglicher Weise ungenutzt ließ.

Bei genauerer Lektüre erschließt sich der klug konstruierte Roman als beklemmendes Gedankenexperiment: als die literarische Konkretisierung der Einsicht, dass jede Biografie Fiktion ist und dass jedes Erinnern und jedes Erzählen unsere Lebensgeschichte aufs Neue verändert. Er stellt aber auch die Frage nach der Möglichkeit eines individuellen Lebensentwurfs und den Bedingungen eines gelingenden Lebens.

Ein suggestiv erzählter und literarisch virtuos gemachter Roman, der seine Leser aber möglicher Weise mit mehr Fragen entlässt, als er Antworten bereit hält. Aber das spricht ja nicht gegen, sondern eher für die Qualität eines Romans.

RONALD SCHNEIDER

Stamm, Peter: Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt. Roman; S. Fischer Verlag Frankfurt am Main, 2018.

(RP)
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