"Accattone" auf Ruhrtriennale Requiem auf einen Bettler

Dinslaken · Die Ruhrtriennale als Ensemble steinerner Industrie-Kathedralen begrüßt im Jahrgang 2015 ein vergessenes Geschwisterchen. Es handelt sich um die Zeche Lohberg in Dinslaken, bei der die Niedlichkeitsform jedoch fehl am Platz ist. Die Kohlenmischhalle ist ein schweigender, von menschlicher Mühsal gezeichneter, naturbelassener und länglicher Riese. Seine Haut hat riesige Poren, Löcher, Krater.

Johan Simons mit "Accattone" auf der Ruhrtriennale: die Bilder
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Bilder von "Accattone" bei der Ruhrtriennale 2015

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Foto: dpa, bt bsc

Bislang stand der Riese im Abseits des Festivals - was sollte es mit einem Raum, dessen Boden vor Kies, Staub, Schotter und Unkraut starrt? Die Zeche Lohberg ist keine heil'ge Halle, sondern so tot und unfruchtbar wie das Gleisbett, das über Hunderte von Metern - die Südwand fehlt - aus der Halle läuft und in Dornen am Waldrand endet.

Als jedoch Johan Simons, der neue Intendant der Ruhrtriennale, dieses stille Monster liegen sah, durchfuhr ihn eine Idee, und er rief: Hierhin gehört "Accattone". Hierbei dachte er zugleich ans Kino, an Bach, die Bibel und das Gemurmel von Bestattern: Staub zu Staub.

Schwarzweiß-Tragödie über einen Kleinkriminellen

"Accattone" ist ein Mythos: die Schwarzweiß-Tragödie des großen Filmregisseurs Pier Paolo Pasolini von 1961 über einen abgerissenen Kleinkriminellen, der wie ein Rabe klaut, sein Liebstes auf den Strich schickt und mit Freunden auf den sonnenbleichen Straßen einer römischen Vorstadt herumlungert - das alles zu bleiernen, extrem langsamen Klängen Johann Sebastian Bachs.

Für die Ruhrtriennale hat Simons dieses staubige Arme-Leute-Milieu dramaturgisch transplantiert. Koen Tachelet destillierte ihm eine Textfassung, welche das Rom von vor 54 Jahren und die Dialoge des Films an die Hünxer Straße in Dinslaken umsiedelt. Wir im Publikum sitzen auf einer gewaltigen Tribüne vor der Nordwand und schauen in einen verlorenen Raum, dem die Abenddämmerung das Licht in der Ferne zunehmend stiehlt - bis wir mit dem Bettler Accattone und seiner Brut fast im Dunkeln sitzen. Eine Stimmung wie bei einem Requiem.

Wunderbare Solisten

Auf einem Podium an der Seite warten die wunderbaren Solisten sowie die Choristen und Instrumentalisten des Collegium Vocale Gent, bis sie der feine Dirigent Philippe Herreweghe zu Zwischenmusiken aus Bachschen Kirchenkantaten, Violin-Solosonaten und der "Johannes-Passion" animiert. Sie musizieren so lupenrein, wie es dieser Raum nie werden kann, und die vier Solisten (allen voran: Dorothee Mields, Sopran, und Peter Kooij, Bass) sind eine Wonne. Ja, es ist ein Paradies aus lauter Bach, doch über allen Tönen ist Tod, und fortwährend hört man es bußfertig singen: "Ich, ich und meine Sünden, die sich wie Körnlein finden des Sandes an dem Meer". Oder so ähnlich.

In Dinslaken suhlen sich die Accattones wie bei Pasolini im Staub. Links lauert eine Grube. Rechts lädt ein Container zum Durchgangsbesuch ein. Von der Seite fällt ungnädiges Restlicht, als werde ein Sonnenuntergang für zwei Stunden und 15 Minuten angehalten und eingefroren. Zwischendurch schwärmt die Bagage, der Bach seine volle Barmherzigkeit, ja Veredelung angedeihen lässt, nach Süden hin aus, immer den Schienen nach, um linkisch mit vollen Müllsäcken oder Wiesenblumen zurückzukehren. Das alles sieht in seiner Lakonie und Tristesse fast malerisch aus. Tatsächlich erleben wir eine Art Proletariats-Folklore, die weniger hoffnungslos als vielmehr kunstgewerblich anmutet. Vom Leben getriebene Hungerleider sind diese Leute kaum, am wenigsten Steven Scharf in der Titelrolle, der fast reflektiert und souverän wirkt. Befällt so einen die Sehnsucht nach dem Ende? Benny Claessens als Salvatore besitzt dagegen finsteres Potenzial. Diesem gefährlich durch die Welt sich schiebenden Schmerbauch mit Jammerstimme möchte man auch im Hellen nicht begegnen.

Nutten geben sich kollegial

Und die Nutten? Auf hohen Absätzen geben sie sich untereinander kollegial. Ansonsten ergeht es ihnen wie ihren Kleidern: Sie rutschen ein bisschen, doch nie zu Boden. Wenn ihnen Zeit bleibt und sie nicht gerade rauchend vor der Container-Baracke warten, raunen sie müde ein paar Regieanweisungen oder schauen zu uns auf die Tribüne hoch, als sei in unseren Gesichtern mehr zu finden als der wachsende Verlust von Anteilnahme.

Gottlob macht die Zeche Lohberg gute Miene zum Spiel, der Raum wirkt natürlich einzigartig, wie ein alter, schmutziger Dom, durch dessen Besuch allein einem die Beichte abgenommen wird. Bach beglaubigt alles von höchster spiritueller Seite. Nach kurzem Applaus schreiten wir musikalisch erhoben, theologisch geläutert und mit dem Vorsatz, gern wieder nach Dinslaken zu kommen, durch den Staub Roms von dannen. Überraschend, wie schnell er draußen auf dem Parkplatz von unseren Schuhen und unserem Gemüt abfällt. Das hätten wir bei einem Abend, der "Accattone" heißt, nicht erwartet.

(RP)
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