Augenzeugin des Amoklaufs in Düsseldorf "Wo ist er? Kommt er wieder?"

Unsere Autorin wollte mit der S-Bahn nach Hause fahren und wurde zur Zeugin des Amoklaufs am Düsseldorfer Hauptbahnhof. Sie hat aufgeschrieben, was sie erlebt hat.

 Polizeieinsatzkommandos im Düsseldorfer Hauptbahnhof.

Polizeieinsatzkommandos im Düsseldorfer Hauptbahnhof.

Foto: Hans-Juergen Bauer

Es ist etwa 20.50 Uhr am Donnerstagabend, als ich am Düsseldorfer Hauptbahnhof in die S28 in Richtung Mettmann steige. Ich bin auf dem Weg nach Hause. Meine Bahn hatte 15 Minuten Verspätung. Ich steige durch die erste Tür in den ersten Waggon ein und suche mir einen Platz in einer Sitzgruppe.

Sekunden später werde ich zur Zeugin eines Amoklaufs.

Um mich herum fangen alle an zu schreien. Im Zug ist plötzlich Panik ausgebrochen. Im ersten Moment vermute ich noch, dass sie unbegründet ist. Ein Mann schreit: "Da läuft einer mit ner Axt, da ist einer mit ner Axt!"

 Antonia Dicke ist 20 Jahre alt und macht derzeit ein Praktikum bei der Rheinischen Post.

Antonia Dicke ist 20 Jahre alt und macht derzeit ein Praktikum bei der Rheinischen Post.

Foto: Henning Bulka

Dann sehe ich die Todesangst in den Gesichtern der Menschen. Solche Gesichtsausdrücke habe ich noch nie gesehen. Eine blonde Frau mit rotem Schal hat sich neben mir auf den Boden zwischen die Sitze gehockt, sie zittert am ganzen Körper. Mehrere Reisende kauern sich jetzt auf den Boden. Ich auch. Meine Beine zittern. Den Täter sehe ich nicht.

"Wir brauchen Hilfe, Mann!"

Dann beobachte ich, wie ein panisch schreiender Mann einen augenscheinlich leblosen Körper durch eine Tür in den Zug zerrt. Dort, am anderen Ende des Waggons, muss der Täter sein Opfer wenige Sekunden zuvor angegriffen haben. "Wir brauchen Hilfe, Mann! Der hat dem mit der Axt auf den Kopf geschlagen! Mann, tut doch was, ruft einen Arzt. Hilfe!" Er ruft immer wieder den Namen des Mannes. Offenbar kennen sie sich.

Ich versuche, die Situation zu überblicken, und rufe die Polizei an. Dann zögere ich. In einiger Entfernung liegt der schwer am Kopf verletzte junge Mann. Will ich das sehen? Kann ich das sehen? Ich gehe zu ihm hin. Der junge Mann ist inzwischen wieder ansprechbar. Ein Ersthelfer drückt eine noch fast volle Packung Taschentücher auf die Wunde des Verletzten an der linken Seite seines Kopfes. Es ist eine klaffende Schnittwunde, stark blutend und etwa sieben Zentimeter lang. Im Schockzustand, mit weit aufgerissenen Augen, will der Mann aufstehen und hebt seinen Kopf mehrmals an. Ich versuche, ihn am Boden zu halten. Ich halte seine Hand, drücke ihm sanft auf die Brust und spüre seinen Herzschlag. Ich rede ruhig mit ihm, sage ihm, dass alles gut ist. "Alles nur halb so wild." Der Mann, er ist Ende 20, sagt kein Wort.

Kurze Zeit später kommt ein weiterer Ersthelfer. Er hat einen Erste-Hilfe-Kasten. Wir ersetzen die Taschentuchpackung durch eine Kompresse. Der Bekannte des Schwerverletzten schreit immer noch panisch um Hilfe, er schlägt wild gegen die Tür der Bahn. Der Lokführer hatte sie geistesgegenwärtig verschlossen, um die Menschen im Zug vor dem Täter zu schützen.

Vor mir sitzt ein kleines Mädchen

Im Zug ist noch eine weitere verletzte Person. Ich höre, wie eine Frau ruft: "Hier ist noch jemand verletzt, eine Fleischwunde, wir brauchen Hilfe!" Ich nehme den Erste-Hilfe-Koffer und gehe auf die Frau zu. Als ich das Opfer sehe, bin ich schockiert: Vor mir sitzt ein Mädchen mit schwarzer Kappe, zitternd, panisch und ein wenig zusammengesackt auf einem Platz in der Bahn. Es ist erst 13 Jahre alt. Auf den ersten Blick sehe ich keine Wunde. Eine Frau macht mich auf den Oberarm der 13-Jährigen aufmerksam. Ich streife ihr die Jacke über die Schultern. In ihrem dünnen Arm klafft eine Fleischwunde. Wenn man sich eine makellose, durch eine Axt eingeschlagene Kuhle in einem Baum vorstellt, bekommt man eine Vorstellung davon, wie die Wunde aussah.

Ich nehme das Erstbeste, was ich in dem Erste-Hilfe-Koffer finde, und wickele es der 13-Jährigen um den Arm. Dann knie ich mich hin, spreche mit ihr und versuche sie abzulenken. Sie erzählt mir, wie sie heißt, und dass sie auf dem Weg nach Hause war. Dann gerät sie wieder in Panik. "Wo ist er? Kommt er wieder?"

Später beginnt sie, in ihrem Portemonnaie zu kramen, und murmelt, sie müsse ihre Mama anrufen. Ich setze mich daneben, nehme ihr das Handy ab und rufe ihre Eltern an.

Einfach zusammengeklappt

Inzwischen sind die Türen der Bahn geöffnet. Der Lokführer hat eine Durchsage gemacht, dass die Polizei nun da sei und wir in Sicherheit seien. Sanitäter kommen und behandeln den Arm des Mädchens. Gemeinsam verlassen wir den Zug. Wir gehen an dem verletzten Mann vorbei, der auf dem Boden des Zugs noch behandelt wird.

Ich sehe Blutspritzer, etwa fünf Meter weit auf dem Bahnsteig verteilt. Es sieht aus wie im Film. Ich denke an American Psycho.

Mehrere Reisende sind psychisch so am Ende, dass auch sie ärztlich betreut werden müssen. Ich höre, wie eine Frau den Sanitätern erzählt, sie habe nichts mitbekommen. Sie sei einfach zusammengeklappt, bevor sie etwas habe sehen können.

Wir werden als Gruppe in den Bahnhof heruntergeführt, wo unsere Zeugenaussagen aufgenommen werden sollen. Die Einsatzkräfte sind sehr professionell, sie sprechen ruhig, langsam und unaufgeregt mit uns. Sie erkundigen sich immer wieder, ob wir noch Fragen haben, ob es uns gut geht, ob jemand Hilfe braucht.

Während wir warten, durchsuchen schwer bewaffnete SEK-Beamte den Bahnhof. Kommandos werden geschrien. Ich sehe, wie ein SEK-Mann mit erhobener Waffe in ein Geschäft ruft und seinen Kollegen zu sich winkt. Das ist beängstigend. Andererseits beruhigt es mich, dass wir von Polizisten umgeben sind. Wir wissen zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass der Täter schon gefasst ist.

Inzwischen habe ich erfahren, dass der junge Mann aus meinem Abteil auf der Intensivstation liegt. Er ist zum Glück nicht mehr in Lebensgefahr, trotzdem ist diese Nachricht ein Schock. Dem kleinen Mädchen geht es anscheinend soweit gut. Es war so tapfer mit seinen 13 Jahren. Ich hoffe, dass sich beide schnell erholen und würde mich freuen, von ihnen zu hören.

Mir wird klar, wie dieser Abend hätte enden können, wenn ich durch eine der hinteren Türen in den Zug eingestiegen wäre.

Antonia Dicke (20) ist Studentin und macht derzeit ein Praktikum bei der Rheinischen Post.

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