Düsseldorf Annas Familie

Düsseldorf · Anna, die Tochter von Margit und Peter, starb 2012. Sie war mit einem Gendefekt geboren worden und bekam als Einjährige Leukämie.

 Peter und Margit mit einem Foto von Anna (mit ihrem Großvater Heinz) sowie den Töchtern Viktoria (mit der Stoffmaus von Anna) und Franziska

Peter und Margit mit einem Foto von Anna (mit ihrem Großvater Heinz) sowie den Töchtern Viktoria (mit der Stoffmaus von Anna) und Franziska

Foto: Anne Orthen

Nikolaus war wieder so ein Tag. Margit hat für ihre Töchter eingekauft. Süßigkeiten und Früchtespaß für Franziska und Viktoria, die alle Toria nennen. Und ein Grablicht für Anna. Manchmal fragt sie sich, was wohl die Leute an der Kasse denken, wenn sie mit einem Lächeln Windeln und Grabkerzen aufs Band packt. Für Peter und sie ist es seit fast vier Jahren selbstverständlich.

Sie wollten immer Kinder. Auch wenn es lange gedauert hat, bis Margit ihr erstes Baby erwartet. 37 ist sie, eine "Risiko-Schwangere", aber das ist ja heutzutage eher die Regel als die Ausnahme. Als die Wehen einsetzen, sitzen Peter und sie vor dem Fernseher und schauen nach Oslo. Und sie warten den Auftritt von Favoritin Lena ab, bevor sie die paar Schritte von ihrer Wohnung ins EVK gehen. Sie sind entspannt. Denn Margit spürt die Wehen zwar. Aber sie hat nicht den brüllenden Schmerz, den andere Mütter haben. Anderthalb Tage liegt sie in diesen Wehen, dann entscheiden sie sich mit den Ärzten für einen Kaiserschnitt. Anna erblickt an Peters Geburtstag das Licht der Welt.

Das Neugeborene ist zu schwach zum Trinken. Der Arzt will Anna für 24 Stunden in der Kinderintensivstation beobachten, weil sie "so schlapp" ist. Daraus werden dreieinhalb Wochen. Die Ärzte befürchten SMA. Spinale Muskelatrophie, googlen Peter und Margit daheim. Lebenserwartung: drei Jahre. Nach drei Tagen in der Hölle geben die Mediziner Entwarnung. Eine neue Diagnose gibt es noch nicht.

Anna darf nach Hause. Sie machen Übungen mit ihr, um die Muskulatur zu stärken. Suchen einen Spezialisten in Essen auf und hoffen auf "irgendetwas, das heilbar ist". Während sie warten, stirbt in Bayern Margits Mutter. Der Abschied, den sie nicht nehmen konnte, quält Margit ebenso wie Annas erste Reise. Sie hatten sich so darauf gefreut, Oma und Enkelin einander vorzustellen. Nun ist Anna fünf Wochen alt, und sie fahren zur Beerdigung.

In Essen bekommt Annas Anderssein einen Namen. Prader-Willi. Ein über den Vater vererbter Gen-Defekt am 15. Chromosom bedeutet hohe Reizbarkeit und Wutausbrüche, die sich mit Medikamenten kontrollieren lassen. Prader-Willi-Kinder werden 50 bis 60 Jahre alt. Ein ganzes Leben. Dass sie das Gefühl von "satt" nicht kennen, immer Hunger haben, ist nicht das Problem von Peter und Margit. Die haben Mühe, ihr Kind zu füttern. "Es wäre stressig geworden", sagt Margit heute. "Aber es wäre ein lebenswertes, ein gutes Leben gewesen."

Sie bilden ein starkes Paar, schnell eingespielt. Physiotherapie zweimal täglich, zweimal wöchentlich zum Therapeuten, Frühförderung. Kontakte zu anderen Eltern mit Prader-Willi-Kindern. Taufe, Besuche bei Annas Geschwistern und bei Peters Vater. "Nach dem ersten Monat des Haderns war alles okay", sagt Margit, die wieder als Risikomanagerin arbeitet, seit sie eine Tagesmutter mit integrativer Gruppe gefunden haben. Die Familie bereitet sich auf die nächste Phase vor: wenn aus dem Säugling, der mit einer Magensonde ernährt werden muss, ein Kleinkind wird, das immer Hunger haben wird.

Doch dazu kommt es nicht. Anna ist ein Jahr alt, als nach einer Erkältung das Fieber nicht sinkt. Peter bringt sie ins Krankenhaus, denkt an Medikamente und Tee, den er vielleicht kochen muss. Aber dann ergibt ein Bluttest: Anna ist eins der zwei Kinder, die jährlich in Deutschland an juveniler myelomonozytärer Leukämie erkranken. Die Frage ist nur: Gehört sie zu den 40 Prozent, die überleben? Untersuchung folgt auf Untersuchung. Peter, dem Ingenieur und Zahlenmenschen, gehen die anderen 60 Prozent nicht aus dem Kopf. Margit ignoriert alles, was sie als Mathematikerin weiß. Sie ist sicher: Mein Kind wird leben. Es war irrational, sagt sie, "aber es hat mir einen schönen Sommer beschert."

Im Januar 2012 wissen sie, dass Annas Leukämie nicht von alleine heilt. Die Deutsche Knochenmark Stiftung hat einen Spender gefunden, der zu ihrer Tochter passt. In der Uni-Klinik wird es transplantiert. Wenn sie still liegen muss, erweist sich das Prader-Willi-Syndrom als hilfreich. Aber auf die Chemotherapie reagiert Anna heftiger als andere Kinder. Zehn Wochen muss sie in der Transplantationsstation bleiben. Ein einziges Mal in dieser Zeit schläft sie auf Margits Bauch liegend ein, ein Moment der Innigkeit, den Margit nie vergessen wird.

Ausgerechnet jetzt schließt ihr Arbeitgeber die Niederlassung, in der sie das Familieneinkommen verdient. Zwischen Beruf und Kinderkrebsklinik zu pendeln, ist hart. Zwischen Transplantationsstation und Vorstellungsgesprächen ist härter. Wenn Margit die sterile Schutzkleidung gegen das Business-Outfit tauscht, fühlt es sich an, als trete sie auf eine Bühne.

Anfang April darf Anna heim. Zur Routine mit Physiotherapie und Frühförderung kommen Blutuntersuchungen. "Es sah gut aus", sagt Peter, der die Rolle des Hausmanns übernimmt, seit Anna eine Pflegestufe hat. Margit hat eine neue Stelle gefunden. Am 28. Juni 2012 muss Anna erneut ins Krankenhaus. Ihre Blutsättigung ist drastisch gesunken. In Margits neuer Firma machen alle früher Feierabend, weil Deutschland bei der EM gegen Italien spielt. Sie fährt ins Krankenhaus und atmet auf, als sie Anna nicht auf der Intensivstation findet. "Dann kann's nicht schlimm sein", denkt sie und winkt ihrem Mädchen mit einem Spielzeugfrosch. Hinter der Beatmungsmaske leuchten Annas Augen auf. Es ist das letzte Lächeln ihres Kindes. In derselben Nacht fällt Anna ins Koma. Margit verschickt SMS an die Familie. Betet für Anna, schreibt sie. Ihr selbst fällt das Beten schwer. Einmal hat sie sich in der Kirche mit bitterem Schmunzeln an Gott gewandt: "Auf deine Erklärung bin ich gespannt." Margit ist katholisch und Naturwissenschaftlerin. Zweifel hatte sie immer. Das ist heute anders. "Wen ich nicht die Gewissheit hätte, dass der Tod nicht das Ende ist, dass wir uns wiedersehen, dann würde ich zusammenbrechen."

Permanent werden Medikamente und Beatmung, die Grenze zwischen Leben und Tod, neu austariert. Sie lernen, dass "stabil" nichts Gutes heißt, und dass "es geht ihr gut" bedeutet, dass Anna nicht in der nächsten halben Stunde stirbt. Stattdessen stirbt Peters Vater. Margit erlebt am Bett ihrer Tochter seinen Tod wie durch eine Nebelwand. Heute sagt sie: "Ich hätte ihn gern noch bei uns gehabt. Aber es macht Sinn, dass er vorausgegangen ist, um Anna zu empfangen."

Nach mehreren Fehlgeburten hatten sich Peter und Margit damit abgefunden, dass Anna ihr einziges Kind bleiben würde. Nun ist sie wieder schwanger. Und am Tag, nachdem sie Franziska zum ersten Mal im Ultraschall gesehen haben, stirbt Anna. In der Küche hängt ein Foto von ihr mit ihrem Opa. Franziska und Toria wissen, wer sie sind. In Fotoalben ihrer Eltern erkennen sie ihr Bobbycar und das Mädchen mit den roten Locken, das damit spielt. "Anna" sagen sie, die große Schwester, die sie auf dem Friedhof besuchen. Franziska fängt an, das verstehen zu wollen, stellt Fragen zum Tod. Für Annas Eltern ist es nicht leicht, den richtigen Ton zu finden. Franziska und Toria sollen nicht in einer traurigen Familie aufwachsen. Aber eine Grundtraurigkeit bei ihren Eltern, die wird es immer geben.

Im Trauercafé des ambulanten Kinderhospizdienstes versteht das jeder. Viele Eltern treffen sich dort, die den unvorstellbaren Verlust erlitten haben, die verwaist sind und verwundet und die verstehen, was Margit und Peter bewegt. Auch deshalb engagiert sich Margit im AKHD. "Es tut mir gut, mit Menschen zusammen zu sein, die mit meinem Thema umgehen können", sagt sie. Seit Annas Tod fällt es ihr schwer, auch unbeabsichtigte Kränkungen wegzustecken. Bei Fremden wechselt sie oft das Thema, wenn die Sprache auf die Kinder kommt. Auch Peter weicht solchen Fragen lieber aus. Er hat drei Töchter, sagt er meistens. "Franziska ist dreieinhalb, Viktoria ist zwei und Anna ist 2010 geboren."

(RP)
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