Interview mit Gefängnispfarrer "Atmosphäre ist die halbe Sicherheit"
Düsseldorf · Sicherheitsvorschriften und lange Wege binden zu viel Personal, es fehlt Zeit für die Betreuung der Inhaftierten, eine Vorbereitung auf das Leben nach dem Knast ist kaum möglich - das ist die erste Bilanz von Gefängnispfarrer Reiner Spiegel nach dem Umzug in die neue Strafanstalt.
Herr Spiegel, vor neun Monaten war der Umzug von der Ulmer Höh' in die neue Justizvollzugsanstalt (JVA). Sind sie inzwischen in den neuen Räumen angekommen?
Spiegel Angekommen bin ich schon, aber ich fühle mich dort noch unwohl. Das neue Gefängnis ist ein steriler, kalter, unpersönlicher Zweckbau, ähnlich wie auch andere moderne Bauten, bei denen nur auf reibungslos ablaufende Funktionen geachtet wird. Auch die Brandschutzauflagen tragen dazu bei. Als ich als Zeichen für mehr Gemütlichkeit einen Schaukelstuhl mit Tisch und Kerzen im Flur vor meinem Büro stellte, mussten die entfernt werden, wegen des Brandschutzes.
Wirkst sich die Sterilität auch auf die Menschen aus?
Spiegel Sicherlich. Aber es ist auch festzuhalten, dass in dem modernen Bau vieles besser ist. Die Beamten haben beispielsweise anständige Büros, die Zellen sind heller, haben abgetrennte Toiletten, die Treppenhäuser sind breit genug. Es ist in diesen Punkten gut geplant worden. Aber die Wege zu den einzelnen Abteilungen und zu den Räumen sind ungeheuer weit. Das kostet Zeit. Ich bin beispielsweise an einem Tag sicherlich zwischen fünf und zehn Kilometer unterwegs. Das Zurücklegen der Wege frisst so viel Zeit, dass das Personal knapp ist.
Wurde falsch geplant?
Spiegel Die Planer legten den Schwerpunkt auf Sicherheit und Überwachung und bauten dafür viel Technik ein, die das Personal entlasten soll. Aber das braucht viel mehr Zeit, Inhaftierte auf den langen Fluren zu begleiten. Zudem gibt es sehr viel mehr Türen und Schleusen, die geöffnet und geschlossen werden müssen. Von den drei oder vier Beamten für eine Abteilung sind immer zwei unterwegs, um Inhaftierte irgendwo hinzubringen. Sie haben dann keine Zeit mehr für die eigentlich wichtige Arbeit.
Welche ist das?
Spiegel Inhaftierte auf das Leben nach dem Knast vorzubereiten. Man muss sie durch Betreuung und Behandlung stärken, mit ihnen versuchen, ihre persönlichen Schwächen auszugleichen, damit sie im Leben bestehen können. Es reicht nicht, dass nur auf Sicherheit geachtet wird. Deswegen brauchen wir mehr Geld und mehr Personal. Aber diese Forderungen sind kaum durchzusetzen.
Man kann politisch Druck machen.
Spiegel Da bin ich skeptisch. Denn gegen den Stimmungstrend in der Gesellschaft können sich Politiker nur schwer stemmen. Auch wegen der Berichterstattung vor allem über spektakuläre Kriminalfälle entsteht der Eindruck, dass alles schlimmer wird, obwohl die Zahl der Fälle nicht gestiegen ist. Die Gesellschaft will Täter möglichst nur wegsperren. Sicherheit hat Vorrang, auch im neuen Gefängnis und sehr viel mehr als in der Ulmer Höh'. Insassen, die mit umgezogen sind, fragen schon, ob sie gefährlicher geworden sind.
Wie ist diese Änderung einzuschätzen?
Spiegel Die Inhaftierten leiden mehr unter Einsamkeit. Weil durch die Sicherheitsbestimmungen viel Personal gebunden ist, sitzen sie länger als in der Ulmer Höh' allein und ohne Beschäftigung in den verschlossenen Zellen. Darunter leidet übrigens auch das Personal im neuen Gefängnis. Es sind engagierte Mitarbeiter, die sich mehr um die Gefangenen kümmern wollen. Aber sie sind an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit angekommen. Noch einmal: Wir brauchen mehr Personal.
Das klingt nach einem Allheilmittel.
Spiegel Nein, das ist es nicht. Aber mit mehr Mitarbeitern könnten die ungeheuer vielen Möglichkeiten genutzt werden, die das neue Gefängnis bietet. Es gibt mehr Gemeinschaftsräume für Gesprächs- und Arbeitsgruppen, größere Sportplätze und -hallen, aber sie können nicht genutzt werden, weil die Mitarbeiter meist unterwegs sind, um Gefangene zu begleiten. Mehr Sozialpädagogen müssten beispielsweise eingestellt werden, die einen Tagesablauf sinnvoller gestalten können.
Aber Sie und die anderen Seelsorger können sich doch um die Menschen kümmern.
Spiegel Das tun wir nach wie vor. Aber auch wir leiden unter den neuen Organisationsabläufen und haben weniger Zeit. Gleichzeitig steigt der Wunsch nach Gesprächen. Auch da macht sich bemerkbar, dass die JVA mit 850 Plätzen — etwa 750 sind davon zurzeit belegt — sehr viel größer ist als die Ulmer Höh' mit 550 Plätzen. Wir hoffen, dass bald eine weitere halbe Stelle für einen Seelsorger besetzt wird. Sie war bisher für Haftanstalten in anderen Städten vorgesehen, aus denen jetzt Gefangene nach Düsseldorf verlegt wurden.
Welche Rolle spielt das neue religiöse Zentrum für Ihre Arbeit?
Spiegel Es kommen so viele zu Gottesdiensten und Gesprächen, dass die kleine Kapelle des Öfteren nicht ausreicht und das angrenzende große Begegnungszentrum mit genutzt wird. Das ist aber praktikabel. Auch die Absprachen mit Muslimen, die ihren eigenen Gebetsraum neben dem Zentrum haben, sind kein Problem. Überhaupt hat sich das multikulturelle Leben eingespielt.
Gibt es wegen der Sicherheitsvorschriften Probleme, wenn viele Besucher kommen?
Spiegel Bisher gab es keine Schwierigkeiten. Aus meiner Sicht lief die Organisation glatt. Die Inhaftierten sind auch froh über die etwas ungezwungeneren Veranstaltungen. Sicherheitsprobleme gibt es meines Erachtens nicht. Denn eine gute Atmosphäre ist die halbe Sicherheit. Das muss generell beim Konzept für die Abläufe im Gefängnis berücksichtigt werden. Kaltes Wegsperren reicht nicht aus.
Gibt es neben religiösen Veranstaltungen auch andere Programmpunkte?
Spiegel Sicher. Konzerte werden angeboten, die Knast-Band übt schon wieder. Und ein Künstler von draußen will Projekte anbieten. Aber das ist wegen der Sicherheitsbestimmungen und der zeitfressenden langen Wege nur schwer zu organisieren. Alles ist komplizierter, die Zeitfenster für Veranstaltungen sind kleiner geworden.
Wie passt das mit dem Engagement von ehrenamtlichen Betreuern zusammen?
Spiegel Trotz der Schwierigkeiten haben wir in den Gefängnisvereinen keine Probleme, ehrenamtliche Betreuer zu finden. Anfang des kommenden Jahres haben wir wieder Schulungen. Aber bei ihnen steht die persönliche Begleitung von einzelnen im Vordergrund. Wenn sie Angebote für Gruppen machen wollen, ist das wegen der schwierigen Organisation noch kaum möglich.
Sind Gruppenangebote wichtig?
Spiegel Auf jeden Fall. Denn hier können die Inhaftierten soziales Verhalten einüben. Und sei es nur in einer Spielegruppe. Dort üben sie auf unterhaltsame Weise, Regeln einzuhalten, mit Konkurrenten umzugehen, Niederlagen zu ertragen oder sich selbst einzuschätzen. Das ist auch im richtigen Leben nötig.
Welche Bandbreite könnten Ehrenamtliche abdecken?
Spiegel Es gibt viele Angebote. Dazu gehören beispielsweise Hilfen, um einen Hauptschulabschluss zu erreichen, Kochkurse, die Gemeinschaft fördern und gleichzeitig Kenntnisse über Ernährung vermitteln, oder auch gezielte Hauswirtschaftskurse. Sie alle sind wichtig, um die Selbstständigkeit der Inhaftierten zu fördern. Die brauchen sie, um wieder im Leben zurechtzukommen. Aber beim bloßen Wegsperren unter Sicherheitsgesichtspunkten werden sie zur Unselbstständigkeit erzogen, weil sie kaum etwas allein machen können.
Michael Brockerhoff führte das Gespräch.