Düsseldorf Der Schäfer war ein glücklicher Mensch

Düsseldorf · Wer wenig redet, redet wenig Blödsinn: Zum Tod von Gerhard Siegfried, der 35 Jahre lang seine Herde auf den Rheinwiesen hütete.

 Der Schäfer Gerhard Siegfried und seine Schafe gehörten zum linken Rheinufer. Siegfried starb Ende 2015 in einem Pflegeheim in Düsseltal.

Der Schäfer Gerhard Siegfried und seine Schafe gehörten zum linken Rheinufer. Siegfried starb Ende 2015 in einem Pflegeheim in Düsseltal.

Foto: Fuchs/ Bauer

Gerhard Siegfried konnte nicht lesen, nicht schreiben, und er trank ziemlich viel Bier. Belächelt hat ihn dennoch nie jemand, was zum einen an seiner natürlichen Autorität lag, zum anderen aber auch daran, dass viele ihn heimlich oder offen bewunderten, ihn, den Schäfer von Oberkassel.

Denn Gerhard Siegfried war ein wirklich freier Mensch. Nicht, weil er wenig besaß, sondern weil er wenig brauchte. Keine Anerkennung, kein großes Haus, keine Designerkleidung oder schwere Autos und erst Recht kein Geld. Es ließ ihn kalt, dieses Herumgerenne, Gehetze seiner Mitmenschen, die 50 Stunden in der Woche und mehr von Termin zu Termin fuhren, Präsentationen vorbereiteten, Menschen trafen, die sie eigentlich nicht mochten. Von der einen Seite des Rheins rasten sie auf die andere, immer über die Brücken, schnell und schneller und im Berufsverkehr nie schnell genug. Er zog stoisch mit seiner Herde am Ufer des Flusses entlang; von Lörick nach Heerdt und wieder zurück. Die Sonne schien, es regnete, es fror, es schneite. Und die Schafe fraßen ruhig und gleichmäßig kauend ihr Gras, bis er sie mit einem Schnalzen und seinen zwei Hunden dazu brachte, weiter zu ziehen.

Gerhard Siegfried stand für die Sehnsucht der Menschen nach Entschleunigung. Viele trafen sich mit dem Schäfer auf ein Bier. Da saßen dann Professoren und Manager, Künstler und Designer und Angestellte, denen die Frau weggelaufen war mit dem Schäfer auf einer Bank und schauten auf den Rhein. Man konnte herrlich mit Gerhard Siegfried den Schiffen nachgucken, man bekam den Kopf frei. Er sagte nicht viel und erst recht nicht ungefragt, denn wer wenig redet, redet eben auch wenig Blödsinn. "Regt Euch nicht so auf", schien sein Leben einem zu sagen, "man braucht gar nicht so viel, um glücklich zu sein." Gerhard Siegfried war die meiste Zeit seines Lebens wohl ein glücklicher Mensch. Geboren wurde er 1936 in Thüringen, und es war klar, dass er Schäfer werden würde, wie sein Vater und sein Großvater zuvor. Doch zuerst kamen der Krieg und die Not und die Flucht der Familie ins Elsass. Dann erst begann er seine Lehre. Nach den Wanderjahren ließ er sich in der Lüneburger Heide nieder, über Köln kam er schließlich nach Düsseldorf, zunächst nach Knittkuhl, wo er im Gut Grüters Aap die Tiere betreute.

Er machte das so, wie er es gelernt hatte, wie sein Vater und sein Großvater es gemacht hatten. Gerhard Siegfried lebte mit den Tieren, und das war natürlich nicht immer so romantisch, wie manche Menschen in einer Großstadt sich das vorstellten. Er brach eben nicht in Tränen aus, wenn eines seiner Tiere trotz seiner Bemühungen verunglückte, an einer Krankheit verendete. Er freute sich zwar, wenn er den Kindern im Frühjahr die Lämmchen zeigen konnte, doch eben mehr über die Kinder als über die Tiere, die zu seinem Arbeitsalltag gehörten. Er vermenschlichte die Schafe nicht. Er sah es stattdessen als seine Aufgabe an, für seine Herde zu sorgen, sie zu schützen, und dafür legte er sich auch schon mal mit Hundebesitzern an, die ihre Tiere freilaufen ließen, die sie nicht unter Kontrolle hatten. Und er schimpfte über das Partyvolk im Sommer, das nicht in der Lage war, den Müll wegzuräumen. Es ging dann auch mal rau zu bei ihm.

Feste Wände hielt er nicht aus. Als er einmal ins Krankenhaus musste, randalierte er, bis er wieder heim konnte, und das war eine Laube an der Theodor-Heuss-Brücke mit offenen Fenstern, nur im Winter nutzte er seine Wohnung.

Eine Zeit lang lebte er mit einer Frau zusammen, eine Französin, die ihm die Behördengänge abnahm, zur Bank ging, Post erledigte. Sie liebten sich wohl auch, doch irgendwann verließ sie ihn. Er sagte nicht, warum. Natürlich nicht.

Er sagte einmal, dass er sich wünsche, irgendwann wie sein Vater inmitten seiner Schafe einfach einzuschlafen und nicht wieder aufzuwachen. Wirklich traurig ist, dass es so anders kam.

Gerhard Siegfried ging mit 65 Jahren in Rente, Anfang der 2000-er Jahre war das. Er hatte ein Einkommen, eine Wohnung, aber keine Schafe. Zum Rhein ging er gar nicht mehr. Er wurde irgendwann krank, kam doch ins Krankenhaus, dann in ein Pflegeheim in Düsseltal, wo er ein schönes Einzelzimmer hatte und doch mit zunehmender Demenz nach seiner Mutter rief. Selten besuchte ihn jemand, er hatte ja keine Familie. Bereits Ende vergangenen Jahres starb Gerhard Siegfried. Seine Herde gibt es immer noch. Meistens schützt ein Zaun die Tiere.

(RP)
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