Herr Kast und die alte Dame Düsseldorfer Arbeitslose kümmern sich um Senioren

Düsseldorf · Die Stadt beschäftigt ehemals Langzeitarbeitslose in der Seniorenhilfe - ein Gewinn für alle Beteiligten.

 Wenn sie zusammen einkaufen gehen, bleibt der Rollator zuhause. Dann nutzt Marlies B. nämlich am liebsten Rainer Kasts starken Arm. Ihre Freundinnen beneiden sie um seine Hilfe.

Wenn sie zusammen einkaufen gehen, bleibt der Rollator zuhause. Dann nutzt Marlies B. nämlich am liebsten Rainer Kasts starken Arm. Ihre Freundinnen beneiden sie um seine Hilfe.

Foto: Anne Orthen

Die Stadt Düsseldorf beschäftigt ehemals Langzeitarbeitslose in der Seniorenhilfe. Das ist ein Gewinn für alle Beteiligten, wie unser Beispiel zeigt.

Er ist ihr Glücksfall. Als sie zum ersten Mal nach seinem Besuch die Tür hinter ihm schloss, da ist Marlies S. "froh und selig" gewesen, und ist es noch, alle 14 Tage donnerstags. Dann kocht sie Kaffee und legt die Liste bereit, mit den kleinen und den großen Dingen, die ihr früher einmal selbstverständlich von der Hand gegangen sind. Und die jetzt Herr Kast für sie erledigt.

Marlies S. ist, was man landläufig eine resolute alte Dame nennt. 88 ist sie, 1930 im Sternzeichen Löwe geboren, und sie glaubt, dass auch daher ihre positive Einstellung zum Leben stammt. Auch wenn ihr das immer mehr abverlangt. Die Beine lassen sie im Stich, der Ischiasnerv, der schon die Mutter und die Großmutter plagte, bereitet ihr Schmerzen. "Das stimmt mich miss", sagt sie und erfreut sich einmal mehr der deutschen Sprache, die es möglich macht, den hässlichen Umstand mit einem so wunderbaren Satz zu beschreiben. Gegen die Missstimmung nimmt sie schon mal eine Tablette, sie will ja nicht "rumjaulen", sagt sie mit unverkennbar norddeutschem Anklang in der Stimme, nicht wenn Besuch da ist, und schon gar nicht, wenn sie alleine ist, "dann hört es keiner, und was bringt das dann?"

Den Anschluss nicht verlieren

Stattdessen legt sie eine schöne, selbstgestickte Decke auf den Tisch, backt einen Kuchen und bewirtet ihre Gäste so, wie sie es einst im elterlichen Hotel gelernt hat. Gastfreundschaft liegt ihr nicht nur im Blut, sie legt großen Wert auf die Pflege ihrer Bekannt- und Freundschaften. "Ladet euch Leute ein, setzt euch zusammen und redet", empfiehlt sie allen, "das ist doch wichtig, damit man den Anschluss nicht verliert."

Sie selbst bereitet gerade die Feier zum 70. Jahrestag der Abiturprüfung vor. Zu der auch nicht mehr allzuviele Gäste kommen werden. "Von meinen Freundinnen, mit denen ich ein Leben lang herzinniglich verbunden war, gibt es nur noch zwei", sagt sie. "In meinem Alter bleibt man irgendwann allein zurück."

Mehr als 120.000 Senioren leben in Düsseldorf, die Statistik fasst sie in der Altersgruppe der über 65-Jährigen zusammen, also die golfspielenden Mallorca-Überwinterer, die hochbetagten Pflegefälle und eben jene Senioren, die sich zu fit fühlen fürs Heim und denen dennoch das Leben in den eigenen vier Wänden immer beschwerlicher wird. Irgendwann geht's nicht mehr ohne professionelle Hilfe, etwa vom Pflegedienst. Aber zwischen der Selbsterkenntnis, dass die Eigenständigkeit Unterstützung braucht, und dem Pflegegrad, der diese Notwendigkeit amtlich bescheinigt, klafft eine Lücke, die in Düsseldorf von der Seniorenhilfe gefüllt wird.

"Seit Herr Kast zu mir kommt, haben wir das alles nachgeholt"

Bei Marlies B. ging es mit den Arztbesuchen los, die sie immer wieder verschob. Auch den Termin beim Akustiker, obwohl sie das Hörgerät doch brauchen würde, schob sie auf, auf irgendwann, wenn es denn besser gehen würde mit dem Laufen. Besser ist es nicht geworden. Aber "seit Herr Kast zu mir kommt, haben wir das alles nachgeholt". Ihr Neffe hatte sich durch die Angebote der Stadt gegoogelt und war fündig geworden. "Beim Jugendamt", sagt Marlies B., die promovierte Publizistin ist und jahrelang im Marketing gearbeitet hat, kopfschüttelnd, "wer soll denn darauf kommen?"

Tatsächlich ist die "aufsuchende Seniorenhilfe", wie die Dienststelle von Martina Kersting heißt, irgendwann einmal aus dem Bezirkssozialdienst entstanden, der zum Jugendamt gehörte. Unter dessen Dach ist sie geblieben, was auch bei den 20 Sozialarbeitern bisweilen für ein Schmunzeln sorgt, wenn sie sich als Jugendamt bei ihren Schützlingen melden.

Neben den Sozialarbeitern sind seit gut einem Jahr auch fünf so genannte Alltagshelfer in Kerstings Team. Ein Modell, das Hilfe nicht nur den Senioren bietet. Die Stadt hat die Stellen geschaffen, um Langzeitarbeitslose wieder in Beschäftigung zu bringen. "Die zusätzliche Versorgung der Senioren ist gewissermaßen ein schöner Nebeneffekt", sagt Kersting. Oder eben umgekehrt.

Kast suchte fünf Jahre lang einen Job

Rainer Kast ist 54 Jahre alt, gelernter Kaufmann, war jahrzehntelang bei einem großen Konzern beschäftigt. Bis seine Abteilung irgendwann aufgelöst wurde. Da war er plötzlich arbeitslos und mit Ende 40 trotz guter Zeugnisse nicht mehr vermittelbar. "In meinem Beruf gab es einfach nichts", sagt Kast. Fünf Jahre lang hat er gesucht.

Der gebürtige Frankfurter kam schon als Kind nach Düsseldorf. Hier hat er nicht nur seine Ausbildung gemacht, sondern auch seinen Zivildienst geleistet. Eine soziale Ader, sagt er, hatte er schon immer, und offensichtlich hat er auch ein überdurchschnittliches Engagement, denn er hat sich als Zivi bei den Johannitern auch gleich zum Notfallsanitäter ausbilden lassen.

Vielleicht, sagt er heute, wäre schon damals ein sozialer Beruf das richtige für ihn gewesen. Anfang der 1980er Jahre aber hat sich irgendwie die Frage nicht gestellt. "Und wir haben Sie ja doch gekriegt", sagt Martina Kersting augenzwinkernd, auch wenn es nur zwei Jahre sind, in denen Kast als Alltagshelfer bleiben kann. Auf diese Zeit ist das Programm begrenzt.

Danach kann er sich - Privileg aller, die bei der Stadt beschäftigt sind - auch auf eine andere freie Stelle der Stadtverwaltung bewerben. Und er hofft, danach noch einmal bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu haben. Nicht zuletzt die professionellen Pflegedienste suchen händeringend Leute wie ihn für all die Dinge, die alte Menschen brauchen, und für die sich gerade in der Anonymität der Großstadt nicht immer freundliche Nachbarn oder hilfsbereite Bekannte finden. Und man will ja, sagt Marlies B., auch niemandem zur Last fallen.

Ein Sozialarbeiter hat Marlies B. nach dem Anruf ihres Neffen zu Hause besucht, mit ihr darüber geredet, was für sie nötig und was möglich ist, und auch dabei geholfen, den Antrag auf einen Pflegegrad auf den Weg zu bringen. Für die Zwischenzeit, bis professionelle Hilfe im Boot ist, schickte er einen der fünf Alltagshelfer. "Uns kann man nicht buchen", sagt Kersting. "Wir machen das Angebot da, wo es nötig ist. Und eben auch nur so lange, bis ein Pflegedienst im Boot ist." Die Stadt will schließlich keinem Unternehmen Konkurrenz machen.

Rainer Kast ist seit November im Team. Zehn Einsätze pro Woche hat er, meist sind es immer nur ein paar beim selben Rentner. "Ich habe viele interessante Menschen kennengelernt", sagt er. "Diese Arbeit ist wahnsinnig spannend, wenn man bereit ist, sich auf die Senioren einzulassen."

"Jetzt habe ich seinen starken Arm"

Für Marlies B. war das nicht so einfach. Es ist schwierig, nach so vielen selbstbestimmten Jahren Hilfe anzunehmen, sich überhaupt einzugestehen, dass sie welche braucht. Als ein Nachbar auf dem Dachboden einen vergessenen Rollator fand, da hat sie erst einmal abgewunken. Es hat eine Weile gedauert, bis sie ihn benutzte, und heute denkt sie manchmal, sie habe sich damit "tüchtig verwöhnt".

Wenn sie mit Herrn Kast einkaufen geht, bleibt der Rollator zuhause. "Da habe ich ja seinen starken Arm", sagt sie, und an dem würde sie so gerne auch mal wieder ins Museum gehen. Aber die langen Wege durch die Ausstellungen, die schaffen ihre Beine nicht. "Warum bieten die da keine Leihrollstühle an", fragt sie. "Das wär doch eine gute Sache, zumal es in den Museen auch viel zu wenig Sitzgelegenheiten gibt."

Mit Rainer Kast hat Marlies B. die Arztbesuche inzwischen alle nachgeholt. Manchmal puzzlen sie zusammen oder reden über Politik. Auf der Liste, auf der die Alltagshelfer dokumentieren, was sie für ihre Schützlinge getan haben, kreuzt Rainer Kast dann "Sonstiges" an. Martina Kersting, die die Listen auswertet, weiß auch von anderen Alltagshelfern: "Für Sonstiges besteht überall der größte Bedarf."

Wenn Marlies B. ihren Freundinnen am Telefon von Rainer Kast erzählt, dann seien die manchmal ein bisschen neidisch. "Düsseldorf hat sich da etwas wirklich Gutes ausgedacht."

(RP)
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