Ehrenamt Ralf regelt das

Düsseldorf · Ralf Borufka hat keine Ahnung von Fußball, führt aber erfolgreich einen Fußballverein. Nebenbei hat er den minderjährigen Waisen Enzu vor der illegalen Abschiebung gerettet und sich mit dem Syrer Ali angefreundet. Begegnung mit einem Macher.

 Ralf Borufka (36, Mitte) versucht täglich neu, die Angst des syrischen Flüchtlings Ali Borem (60) um seine zurückgebliebene Familie zu lindern. Enzu Condé (17) sollte als angeblich Erwachsener abgeschoben werden. "Drei Jahre auf der Flucht aus Guinea haben seine Gesichtszüge hart gemacht, aber er ist noch ein Kind", sagt Borufka. Wegen dessen Einsatz darf Condé bleiben, lernt Deutsch, integriert sich.

Ralf Borufka (36, Mitte) versucht täglich neu, die Angst des syrischen Flüchtlings Ali Borem (60) um seine zurückgebliebene Familie zu lindern. Enzu Condé (17) sollte als angeblich Erwachsener abgeschoben werden. "Drei Jahre auf der Flucht aus Guinea haben seine Gesichtszüge hart gemacht, aber er ist noch ein Kind", sagt Borufka. Wegen dessen Einsatz darf Condé bleiben, lernt Deutsch, integriert sich.

Foto: Hans-Jürgen Bauer, Bearbeitung: Phil Ninh

Jeder, der ihn kennt, würde seinen wertvollsten Besitz darauf verwetten, dass Ralf Borufka nie den Mut verliert, nie, niemals. Dies ist die Geschichte davon, wie es einmal doch um ein Haar so weit gekommen wäre und weshalb es droht, erneut so weit zu kommen, obwohl er in diesen Tagen mehr denn je sprüht vor Tatendrang.

Über dem Bauchansatz des 36-jährigen Düsseldorfers grinst ein Totenkopf vom T-Shirt. Der Kampfgeist ist das einzige, das den Mann mit der sanften Stimme und dem weichen Jungengesicht mit einem Piraten verbindet, aber er ist auch das Entscheidende. Seine Waffen sind unsexy und mögen stumpf wirken — Menschlichkeit, Diplomatie, Bürokratie — aber er weiß damit umzugehen. Er ist ein Kämpfer, ein Abenteurer, ein Held sogar.

Er schmeißt einen Fußballverein mit mehr als 600 Mitgliedern, irgendwie ist er da so reingerutscht. Und er ist, als wäre es selbstverständlich, auf die Bewohner der beiden Flüchtlingsheime um die Ecke zugegangen, ist dort auf Menschen getroffen, hat kurzerhand ein Benefizspiel mit ihnen organisiert. Einen von ihnen hat er gerettet, einen weiteren bewahrt er Tag für Tag neu davor, den Verstand zu verlieren. Nicht ganz allein natürlich, aber als treibende Kraft. Und alles nach Feierabend in der Grundschule Hassels, wo er als Aushilfslehrer arbeitet.

Borufka kennt keine Hindernisse, er nimmt Herausforderungen in Angriff. Egal wen sie betreffen. "Helfen macht mir einfach Spaß", sagt er, "es gibt nichts Schöneres als zu sehen, wie ein Engagement Früchte trägt."

"Warum ich helfe? Warum denn nicht?"

Kurz vor dem Mauerfall war er mit seinen Eltern aus der DDR ausgereist — legal, aber unter der Auflage, es sofort zu tun, weshalb er sich nicht einmal von seinen Freunden verabschieden konnte. Sein elfter Geburtstag war sein erster Schultag in seiner neuen Heimat Bayern, Brennberg bei Regensburg, die erschreckend wenig mit seiner alten gemein hatte, noch nicht einmal die Sprache. Es war der Beginn einer Leidenszeit, denn für die "Mia san mia"-Fraktion war der "Ossi" ein leichtes Ziel. Zwei Jahre später brüllten Neonazis Parolen und warfen Molotowcocktails in der Stadt, in der er geboren und aufgewachsen war und die nun als Synonym stand für Fremdenhass: Hoyerswerda.

Borufka versteht nicht, woher dieser Hass kommt, und genau so wenig versteht er die Frage, warum er das Gegenteil tut, helfen. "Die Frage ist doch: Warum nicht?"

Die Schmähungen in der Schule waren jedenfalls schmerzhaft genug, dass er bis heute nicht im Traum auf die Idee käme, Einladungen zu Klassentreffen anzunehmen, diesen Anlässen zu kollektiver Verklärung der Vergangenheit. 2003 hatte es ihn nach Düsseldorf gezogen, der Liebe wegen. Gleichzeitig entschied sich der gelernte Elektriker gegen den sprichwörtlich goldenen Boden des Handwerks, um sein Hobby, die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, als Ganztagsbetreuer zum bescheiden bezahlten Beruf zu machen.

Und mit spürbarem Vergnügen ist er seit anderthalb Jahren Geschäftsführer der Fußballabteilung des DJK Sportfreunde Gerresheim. Obwohl es dutzende Stunden pro Woche kostet, den Bürokratiewahn der Verbände auszubaden, also all den Papierkram abzuarbeiten, den keiner machen will. Ehrenamtlich. Und obwohl er mit Fußball überhaupt nichts am Hut hat. Er könnte keinen Ball aufs Tor bringen und nicht einmal erklären, was Abseits ist. Aber Borufka ist hoffnungsloser Optimist, ein verbissener Tüftler und bienenfleißig dazu, ein Macher. "Ralf regelt das", sagen die Menschen in seinem Umfeld, und dann regelt Ralf das. Egal was.

48 Stunden nach dem Benefizspiel schien alles verloren

Doch am 13. April schien es selbst für Ralf nichts mehr zu regeln zu geben. Der Vollwaise Enzu Condé, der sich nach einer dreijährigen Flucht aus dem westafrikanischen Guinea in Düsseldorf-Gerresheim eingelebt hatte und nur zwei Tage zuvor einer der Stars des von Borufka organisierten Benefizspiels Sportfreunde gegen die Flüchtlinge aus den Heimen neben dem Sportplatz gewesen war, war zur Abschiebung freigegeben.

Das Spiel war gut gelaufen und unentschieden geendet, 4:4, ohne sozialpädagogisches Nachhelfen. Die Flüchtlinge hatten sich bei den Deutschen abgeguckt, zu jeder Gelegenheit "Schiri!" zu rufen und alle zusammen hatten sie bei Geflügelwürstchen und alkoholfreien Getränken einen perfekten Nachmittag verbracht.

Genau 45 Jahre zuvor hatte Apollo 13 gemeldet "Houston, wir haben ein Problem", und nicht einmal 48 Stunden nach Abpfiff hatten Borufka, die Sportfreunde und ganz Gerresheim plötzlich eins. Etwas hatte sich fundamental geändert im Fall Enzu Condé, der für die Behörden kein Mensch mit Traumata und Träumen ist, sondern ein Fall, mit dem Aktenzeichen 8 K 1896/15.A.

Eine von Condés Betreuern angestrengte Anordnung des Düsseldorfer Verwaltungsgerichts gegen das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) war endgültig abgelehnt. "Alle Rechtsmittel ausgeschöpft", erinnert sich Borufka. Sein Tonfall ist dumpf, seine Miene düster. Damit war das Wort einer Mitarbeiterin des Landesjugendamts wieder Gesetz, die Condé bei seiner Ankunft in Dortmund anhand ihres persönlichen Eindrucks aus einem Gespräch kurzerhand für volljährig erklärt hatte. Sein Geburtstag sei nicht der 30. März 1998, wie er verzweifelt beteuerte, sondern der 1. Januar 1996. Und Basta. Gerresheim war in Aufruhr, denn jederzeit hätte ab jetzt die Polizei vor der Tür stehen und den papierlosen Minderjährigen de facto gegen geltendes Recht abschieben können. Nach Spanien, wo er erstmals europäischen Boden betreten hatte und wo ihn die Behörden, so erzählt er, erst drei Monate lang ins Gefängnis gesteckt und dann zur Flucht gedrängt hatten, damit er irgendjemand anderem zur Last fallen möge, in Frankreich oder Deutschland oder sonstwo.

Borufka dreht auf

Als Enzu davon erfuhr, sackte er zusammen. Irgendwann kamen die Tränen, er schlief und aß kaum noch.

Borufka wurde so wütend wie noch nie zuvor in seinem Leben. Er setzte alle Hebel in Bewegung, appellierte an die katholische und die evangelische Kirchengemeinde von Gerresheim, die zusagten, dem schüchternen, beliebten Enzu Kirchenasyl zu gewähren, wenn es hart auf hart käme. Er recherchierte das Zustandekommen von Condés Altersschätzung, formulierte ein vierseitiges Protestschreiben an die Stadt Dortmund, das Land NRW, den Bundesinnenminister sowie den Bundespräsidenten, informierte die Medien. Borufka hatte getan, was er konnte, aber es war vielleicht zu spät, höchstwahrscheinlich sogar, denn die Maschinerie der diversen Behörden und Gerichte ist wie ein Tanker, der sich nur in Zeitlupe abbremsen lässt.

Borufka stand unter Strom, aber auch so kurz wie noch nie davor, seinen Mut zu verlieren.

Viereinhalb Tage vergingen so. Dann, um halb eins in der Nacht von Freitag auf Samstag, weckte Borufkas Handy ihn mit einer E-Mail aus Guinea. Im Anhang: Der Scan eines Auszugs aus dem Geburtsregister von Condés Heimatstadt, der dessen Angaben bestätigte und auch in Papierform mit Siegel und Stempel einige Wochen später ankam. "Die Behörden akzeptierten das ohne zu murren", sagt Borufka. Condé war sicher. Auch, weil Borufka nicht der Versuchung erlag, im Alleingang den Retter spielen zu wollen, sondern sich mit Condés Betreuerin Birgit Miertz-Frank (58) aus der Evangelischen Kirchengemeinde zusammentat, die fließend Französisch spricht, einen Kontakt nach Guinea herstellte und auf eigene Kosten einen Anwalt finanzierte.

"Er tut der Mannschaft gut", sagt Condés Trainer

"Alles gut", sagt Enzu Condé jetzt nur, auf jede Frage. "Alles gut, wegen Mama Birgit und Bruder Ralf." Dann zieht es ihn wieder auf den Platz, wo sich der auf den ersten Blick bedrohlich dürr wirkende Teenager gut durchzusetzen weiß. Die Flip-Flops, in denen er beim ersten Training auf dem Platz stand, sind längst durch Fußballschuhe ersetzt, die Mitspieler, Trainer und die Bürgerstiftung Gerricus aufgetrieben haben. Er ist in ein Jugendwohnheim in Neuss umgezogen und lernt seit Februar Deutsch am Leo-Statz-Berufskolleg.

Vor oder nach dem Training legt er Extraschichten mit den Sportfreunden ein — beim Lesen und Schreiben. Bald wird sein Spielerpass kommen, A-Jugend, Kreisklasse. Eine obligatorische dreimonatige Sperrfrist zum Start hat der Verband unbürokratisch aufgehoben. Er sprintet, grätscht, erobert den Ball, behauptet ihn, sieht seine Mitspieler, verteilt den Ball, bekommt ihn zurück, trifft. Schwächen in der Ballannahme macht er mit großer Übersicht, läuferischem und kämpferischem Einsatz wett. "Er tut der Mannschaft gut", sagt sein Trainer Marc Tölle und meint nicht nur das Sportliche.

Enzu Condé will Fußballprofi werden, natürlich, aber Lkw-Fahrer wäre auch okay. Oder sonstwas. Alles gut.

Ali stützt sich auf den Glauben — und auf Ralf Borufka

Ali Borem möchte keinesfalls undankbar wirken, aber für ihn ist nichts gut. Der 60-jährige Textilhändler aus Syrien, der die Aura eines Philosophen hat, ist mit seiner eigenen Lage zufrieden, doch die Sorge um seine Familie treibt ihn in den Wahnsinn: Mit seiner siebenjährigen Tochter und den drei jüngsten Söhnen steckt seine Frau Samira noch in Jordanien fest; ihre anderen sieben Kinder sind in alle Welt zerstreut, aber wenigstens in Sicherheit. Er selbst hatte am 20. November 2014 nach einer Reise über das Mittelmeer und durch Italien erstmals deutschen Boden betreten. Seit einigen Tagen hat er nun seine Anerkennung als Flüchtling — achteinhalb Monate, nachdem er den Asylantrag gestellt hat. Er ist dankbar und will doch mehr. Er will seine Familie nachholen, weil er will, dass sie überlebt. Ist das zu viel verlangt? Borufka unterstützt ihn, wie er kann, bremst ihn ein, baut ihn auf, ist einfach da.

Fünf Mal täglich bittet der gläubige Muslim Borem Allah, ihm Geduld zu schenken, doch jetzt bricht es aus ihm heraus: "Jeden Tag fallen Bomben, sterben Menschen, doch ich muss immer weiter warten. Für meine Familie geht es um Leben und Tod, was man bei allem Respekt sicher nicht von allen Fällen behaupten kann, die die Behörden zu bearbeiten haben."

Zwischen Borufka und Borem hat sich eine Freundschaft auf Augenhöhe entwickelt. Borufka genießt Borems arabischen Kaffee ("unbeschreiblich intensiv"), Borem erträgt Borufkas laffen europäischen mit Fassung. Sie rauchen zusammen und reden, reden, reden, über die richtige Flüchtlingspolitik, darüber wie Borem sich bei den Deutschen für ihre Unterstützung revanchieren könnte, über Parallelen zwischen Koran und Bibel. Borufkas Englisch ist rudimentär, aber Türkisch, Arabisch oder Französisch wie Borem spricht er erst recht nicht, und dessen Deutsch wiederum wird nur langsam besser, obwohl eine Nachbarin Unterricht erteilt, aus eigener Inititative, oft zweimal täglich. Die Kommunikation holpert, aber sie gelingt.

"Als Mensch" nehme er Borufka wahr, sagt Borem, "und als Lehrer". Das beruht auf Gegenseitigkeit.

Ende offen, Kampfgeist ungebrochen

Ob und wann es Ali Borem gelingen wird, seine Familie nachzuholen, steht in den Sternen. Ebenso offen ist die Frage, was nach seinem 18. Geburtstag mit Enzu Condé passieren wird. Ralf Borufka und seine Helfer haben viel erreicht, aber wie viel Arbeit, wie viel Hoffen und Bangen noch vor ihnen liegt, kann niemand sagen. Borufka schreckt das nicht, er hat Energie für zehn. "Ich würde und werde jederzeit wieder tun, was nötig ist", sagt er. Was das ist, sagt Miriam Koch, die Flüchtlingsbeauftragte der Stadt Düsseldorf: "Er hat in der 'Masse Flüchtlinge', die Fragen, Sorgen und Angst hervorruft, Menschen erkannt."

Rund 3400 Flüchtlinge leben derzeit in Düsseldorf, und es werden mehr werden, geschätzt 700 jeden Monat. Dabei wird es Probleme geben, selbst wenn die Anwohner sich menschlich zeigen. Nicht jeder, der bleiben darf, wird es verdient haben. Viele derjenigen, die zurückgeschickt werden zu den Folterern, Gangstern, Autokraten oder "bloß" in bitterste Armut, hätten es verdient, bleiben zu dürfen. Und am Leiden und Sterben ungezählter weiterer, die es nie bis hierhin schaffen, ist Europa mitschuldig, durch vergangene, noch andauernde und zukünftige Ausbeutung und Destabilisierung ihrer Heimatländer.

Dennoch kann man mehr tun als bloß zu hoffen, dass Ralf Borufka tatsächlich nie den Mut verlieren wird. Man kann es ihm auch nachmachen. Sich engagieren, für Flüchtlinge oder, falls man sich dazu tatsächlich nicht durchringen kann, gerne auch für Deutsche. Für Nachhilfekinder, Obdachlose, Behinderte. In einer Suppenküche oder bei der alten Frau von nebenan.

Man braucht kein Zertifikat dafür und muss auch kein Heiliger sein. Man kann klein anfangen. Man muss sich bloß aufraffen und einen langen Atem beweisen. Mehr braucht es nicht. Aber davon viel, viel mehr.

Denn selbst Ralf kann nicht alles regeln.

(tojo)
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