Heimatreport Lichtenbroich Geschichten aus dem wilden Osten

Düsseldorf · Unser Autor hat sich an die östlichste Grenze der Stadt aufgemacht. Gefühlte 1000 Kilometer von der Kö entfernt, ist er im von Autobahnen umschlungenen Viertel auf Spuren aus Korea, Schlesien und vom Balkan gestoßen.

 "Der nächste Beleg, dass es in diesem Winkel noch östlicher zugeht als gedacht": die serbisch-orthodoxe Kirche.

"Der nächste Beleg, dass es in diesem Winkel noch östlicher zugeht als gedacht": die serbisch-orthodoxe Kirche.

Foto: Hans-Jürgen Bauer

Einer meiner Lieblingsautoren, der Pole Andrzej Stasiuk, schreibt wunderschöne Reiseerzählungen. Immer sind es Gegenden im Osten, die ihn anziehen, sei es in Polen, in Albanien oder der Mongolei, und immer zieht es ihn an die Ränder, in die verborgenen Ecken, wo ihm das Leben direkter, ungeschönter, ungezügelter begegnet als in den herausgeputzten Zentren.

Am Morgen, als ich beschloss, an die Ränder von Düsseldorf zu gehen, an den östlichen Stadtrand an der Grenze zu Ratingen, also nach Lichtenbroich, hatte ich in Stasiuks neuestem Buch "Der Stich im Herzen. Geschichten vom Fernweh" gelesen, das von der Mongolei handelte. Nur zwei Stunden später geschah folgendes: Ich fuhr mit dem Wagen durch Lichtenbroich, schön langsam den Volkardeyer Weg entlang. Am achtgeschossigen Mietshaus mit der Nummer 87 - ein, mit Verlaub, ziemlich öder Klotz, das letzte Lichtenbroicher Haus vor Ratingen - bog ich links in eine etwa 200 Meter lange Sackgasse ohne Namen. An der Ecke das China-Restaurant "Shanghai", das großflächig für ein "Mongolisches Buffet" warb. Auf den ersten Metern der Sackgasse - rechts wild wucherndes Gras, üppige Büsche und Hecken, links die Gärten einer Siedlung - parkte ein alter grüner VW Passat mit, ich schwöre, albanischem Kennzeichen. Willkommen im Osten! Und das war erst der Anfang.

Düsseldorf, Lichtenbroich, Sackgasse ohne Namen: Die Königsallee ist von hier gefühlt 1000 Kilometer entfernt. Im Osten wie im Westen ist der Stadtteil von Autobahnen begrenzt, das Viertel steckt förmlich in einer Autobahnschlinge. (Vom nahen Flughafen nicht zu reden.) Laut Statistischem Jahrbuch der Stadt ist hier der "Verkehrsflächenanteil" höher als 30 Prozent - der Höchstwert, wie ihn zum Beispiel auch die Stadtmitte aufweist. In einem Text der Düsseldorfer "Geschichtswerkstatt" heißt Lichtenbroich "Morast-ecke", "der feuchte Oststreifen von Düsseldorf", aber das ist lange her. Heute wäre "der wohl westlichste Zipfel des Ostens" passend.

Nachdem ich meinen Wagen am Ende der Sackgasse, wo die Asphaltierung abbrach, so wie im Osten Straßen halt manchmal abbrechen, abgestellt hatte, tauchte ein älterer Herr mit einer Brötchentüte unterm Arm auf, wir kamen ins Gespräch. Er war gerade auf dem Weg zu seinem Kleingarten in der Kolonie "Volkardey" - 37 picobello gepflegte Gärten - und gab mir einen Tipp. "Laufen Sie in die Parallelstraße, die Krahnenburgstraße. In die Siedlung Klein-Korea." Ich: "Das wird ja immer ostiger! Woher kommt der Name?" Er: "Die Siedlung wurde Anfang der fünfziger Jahre gebaut. Für Flüchtlinge. Weil zu der Zeit Korea-Krieg war, wurde die Siedlung im Volksmund Klein-Korea genannt." Kürzlich habe es dort übrigens einen Klein-Korea-Krieg gegeben, zwischen den Anwohnern und den Besitzern der Siedlung, der Düsseldorfer Bau- und Spargenossenschaft, weil die viele der Stadthäuschen teils modernisieren, teils abreißen wolle.

Tja, dachte ich, so ist es, das Leben im Osten, und sei es nur im Osten des nördlichen Düsseldorfs: rau und hart. So beschreibt es Stasiuk, und so liebt man es oder eben nicht. Ich jedenfalls liebe es so und nahm den schmalen Weg, der am Ende der Sackgasse abzweigte und die Kolonie "Volkardey" säumte.

Nach etwa 100 Metern ragte, auf einer Kirchenkuppel, ein goldenes Kreuz in den Himmel. Was war das? Ganz einfach: Der nächste Beleg, dass es in diesem Winkel noch östlicher zugeht, als gedacht. Denn hier hat die serbisch-orthodoxe Kirchengemeinde Düsseldorfs ihren Sitz. Der Gärtner, der die gepflegte Anlage, als ich sie betrat, mit einem Rechen bearbeitete, sagte: "Gehen Sie hinein, die Kirche steht offen." Gesagt, getan. Fast ebenso sehenswert wie das Kircheninnere mit seinem neunstöckigen, in eine Art Krone gefassten Kristallleuchter und den vielen Ikonen schien mir das angrenzende Gemeindehaus, das wirkte, als sei es original aus Bayern importiert. Ein Irrtum, natürlich, wie er nur Ignoranten unterläuft. Ein Mann, der auf den wuchtigen Holzbalkon des Hauses trat und fragte, ob er mir helfen könne, sagte, der Architekt sei Serbe gewesen. "Das ist original Morawa-Stil!"

Ich hätte mich stundenlang aufhalten können in der Nähe dieser namenlosen Sackgasse in Lichtenbroich, dieser halb verwilderten Straße, die den Zugang zu einem Düsseldorf eröffnet, wie es in keinem Reiseführer steht. Hätte noch lange durch Klein-Korea, diese friedlich, ja idyllisch anmutende Sammlung von Stadthäuschen spazieren und Bewohner sprechen können. Bewohner wie die ältere Dame, die in ihrem Vorgarten kniete, Unkraut rupfte und erzählte, sie sei ein Flüchtling aus Schlesien und in den Fünfzigern mit ihrer Familie hierhin gezogen, und wie schief man sie damals angeschaut habe. "Alles, was die Flüchtlinge heute erleben, haben wir auch erlebt. Nur hat damals niemand Theater darum gemacht." Herrjeh. So viele Geschichten! Und wie schön: Man muss gar nicht weit reisen, muss die Grenzen Deutschlands gar nicht verlassen, um sich im wilden Osten zu wähnen. Der Osten von Lichtenbroich tut's auch.

(RP)
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