Düsseldorf Hubertine Rexroth (103) suchte immer nach Harmonie

Düsseldorf · An der Wand über dem Fernseher hängt ein gerahmter Wandteppich, eine Gobelin-Stickerei. Die bunten Fäden malen das Bild eines jungen Mannes. Er steht auf dem Balkon, lehnt sich über das Geländer und späht zu einer Frau am Nachbarhaus. An dieser Stickerei hat Hubertine Rexroth monatelang gearbeitet. Es war ihr Projekt für den Ruhestand, jeden Abend hat sie die Fäden durch den Stoff gezogen und das Bild wachsen lassen. Das ist jetzt mehr als 40 Jahre her, Hubertine Rexroth ist 103 Jahre alt.

In den Sesseln ihres Zimmer im Altenheim Herz-Jesu der Caritas liegen selbst gemachte Kissen, in den Regalen gewebte Teppiche. Hubertine Rexroth hat Handarbeit geliebt, solange sie noch richtig sehen konnte. Der graue Star hat ihre Augen getrübt, sie sitzt im Rollstuhl. Die gebürtige Düsseldorferin kann sich nicht mehr an alle Daten erinnern. "Das weiß ich nicht mehr, Schwester", sagt sie dann und lacht. Ihr Lachen ist ansteckend, ihre kleinen Augen blitzen. Aber der 16. November 1914 kommt wie aus der Pistole geschossen, das eigene Geburtsdatum vergisst man nie.

Die Tochter eines Schreinermeisters und einer Hausfrau lebt mit ihren Eltern und ihrem Bruder mitten in Düsseldorf. Das Mädchen schafft es auf das St.-Ursula-Gymnasium in der Altstadt - damals eine Besonderheit. 1933 schließt sie ihr Abitur ab und beginnt eine Lehre bei der Commerzbank. "Ich habe unglaublich gerne gearbeitet", sagt sie heute. Und sie verliebt sich. In den Schneidermeister Philipp Rexroth, den sie 1936 heiratet. Zunächst lebt sie mit ihrem Mann in einer Wohnung in Oberkassel, später zieht das Paar in das Haus der Eltern.

Zusammen leben sie in einem Zehn-Familienhaus auf der mit Bäumen gesäumten Hammer Straße in Unterbilk, direkt hinter dem heutigen Medienhafen. Die Familie verwaltet das große Haus mit den Mietern, lebt aber selbst nur in einer kleinen Drei-Zimmer-Wohnung.

Noch in diesem Jahr kommt ihr Sohn Günther zur Welt. Noch heute kommt sie ins Schwärmen, wenn sie von ihrer kleinen Familie spricht und von ihrem Philipp. "Gut sah er aus", sagt sie lachend. "Er hatte dunkles Haar und war ein wenig größer als ich." Ein Bild besitzt sie nicht, denn viel Zeit bleibt der jungen Familie nicht vergönnt.

Während des Zweiten Weltkriegs muss Philipp Rexroth an die Front. "Ich hatte solche Angst, als er eingezogen wurde." Der junge Vater kehrt nicht zurück. Hubertine Rexroth und ihr Sohn leben im Ungewissen. Es sollte Jahre dauern, bis sie Bescheid bekommt. Auch ihr Bruder fällt im Krieg. 1943 folgt ein weiterer Schlag. Britische Bomber zerstören das große Haus. Mühsam bauen die Eltern das Heim wieder auf. Hubertine Rexroth geht arbeiten und steckt ihr Erspartes in den Aufbau. Sie muss von vorne angefangen - ohne Bruder und ohne Mann.

Sie hat gelernt, sich zu behaupten. Das sei das Wichtigste, sagt sie. "Und ich habe mich nie mit Streit abgegeben. Ich habe immer Harmonie gesucht." Die Witwe heiratet nie wieder. Sie arbeitet in der Bank, kümmert sich um ihren Sohn. Und sie verwaltet das Haus. Bis 1975 arbeitet Rexroth bei der Bank auf der Kö. Am liebsten trinkt sie in ihren Pausen Kaffee bei Heinemann, ab und an gönnt sie sich Kuchen.

Seit 2015 wohnt sie in dem Heim in Flingern. Beim Einzug war sie 100 Jahre alt, ihr Sohn schon seit sechs Jahren tot. Doch ihre Schwiegertochter, die für Hubertine Rexroth wie eine Tochter ist, lebt noch heute in der kleinen Wohnung an der Hammer Straße.

(veke)
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