Gauck-Rede in Düsseldorf "Mich erschreckt der Multikulturalismus"

Düsseldorf · Joachim Gauck hat an der Uni Düsseldorf über Heimat und das Fremde gesprochen. Wir veröffentlichen Auszüge aus seiner Rede.

Joachim Gauck an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf
7 Bilder

Joachim Gauck an der Heine-Universität

7 Bilder
Foto: Bretz, Andreas

"Zunächst: Heine! Er hat mich begleitet, seit ich in literarischen Texten Inspiration und Orientierung suchte. Getröstet hat er mich nur selten. Aber eine eigene Haltung zu finden, dabei hat er mich bestärkt. Und oft habe ich Konstellationen oder Menschen besser verstanden durch das, was Heine dachte und schrieb. Ganz besonders gilt das für "die Deutschen", über die Heine schrieb - zum Beispiel über ihr besonderes Verhältnis zu dem, wonach ich mich immer sehnte: Freiheit. "Der Engländer liebt die Freiheit wie sein rechtmäßiges Weib. Er besitzt sie, und wenn er sie auch nicht mit absonderlicher Zärtlichkeit behandelt, so weiß er sie doch im Notfall wie ein Mann zu verteidigen. Der Franzose liebt die Freiheit wie seine erwählte Braut. Er wirft sich zu ihren Füßen mit den überspanntesten Beteuerungen. Er schlägt sich für sie auf Tod und Leben. Er begeht für sie tausenderlei Torheiten. Der Deutsche liebt die Freiheit wie seine Großmutter."

Es war nicht negativ gemeint, als ich bei einer Rede im Bundestag 1999 über uns Ostdeutsche sagte, dass wir nach der Einheit Gefühle von Fremdheit hatten: "Sie hatten vom Paradies geträumt und wachten auf in Nordrhein-Westfalen." Mein Gedanke dabei war positiver als das, was Ihr Schmunzeln jetzt vermuten lässt. "Nordrhein-Westfalen", das war für mich immer der Ort des gestalteten Lebens. Nicht der Ort, an dem ein Paradies errichtet werden soll. Sondern der Ort, an dem aus der Wirklichkeit heraus versucht wird, Gutes zu erreichen. Selten pathetisch, meistens realistisch und wenn wir an den Wandel denken, den dieses Land gestaltet hat, kann man sagen: trotz allem erfolgreich. Es ist ein guter Ort zum Leben und Arbeiten. Ein Ort, dem ich mich nahe fühlen kann, auch wenn ich geografisch von weit her komme.

Lassen Sie uns einen Blick auf die Rolle werfen, die dem Fremden im Kontext der Nationalstaaten zugewiesen worden ist. Angesichts des destruktiven Potenzials im Umgang mit der Fremdheit sollten wir die Zivilität umso höher schätzen, um die sich die Menschheit immer wieder bemüht hat. Wir wissen, dass es ohne Affektkontrolle keine Zivilität geben kann. Affektkontrolle aber, die durch reine Repression erreicht wird, löst den zugrundeliegenden Konflikt genauso wenig wie ein Krieg. Gewaltfreie Veränderungen hingegen setzen voraus, dass wir die Fremden "entfeinden" und das Eigene entidealisieren.

Wir kennen die Folgen einer Entwurzelung aus den Geschichten vieler Emigranten. "Ich war ein Mensch, der nicht mehr ,wir' sagen konnte", hat Jean Améry geschrieben, nachdem das NS-Regime ihn wegen seiner jüdischen Herkunft außer Landes getrieben hatte. Abgeschnitten von dem "Wir" wurde ihm schmerzhaft bewusst, wie sehr der Mensch Heimat braucht, "um sie nicht nötig zu haben".

Ein Nationalstaat darf sich nicht überfordern. Wer sich vorstellt, quasi als imaginierter Vertreter eines Weltbürgertums alle Grenzen des Nationalstaates hinwegzunehmen, überfordert nicht nur die materiellen, territorialen und sozialen Möglichkeiten eines jeden Staates, sondern auch die psychischen Möglichkeiten seiner Bürger. Sogar der weltoffene Mensch gerät an seine Grenzen, wenn sich Entwicklungen vor allem kultureller Art zu schnell und zu umfassend vollziehen.

Einen großen Einfluss in der Integrationspolitik hat lange Zeit die Konzeption des Multikulturalismus gehabt: Was sich auch immer hinter den einzelnen Kulturen verborgen hat - Vielfalt galt als Wert an sich. Die Kulturen der Verschiedenen sollten gleichberechtigt nebeneinander existieren, für alle verbindliche westlich-liberale Wertvorstellungen wurden abgelehnt. Ich verstehe, dass es auf den ersten Blick tolerant und weltoffen anmuten mag, wenn Vielfalt derart akzeptiert und honoriert wird. Wohin ein solcher Multikulturalismus aber tatsächlich geführt hat, das hat mich doch erschreckt.

So finde ich es beschämend, wenn einige die Augen verschließen vor der Unterdrückung von Frauen bei uns und in vielen islamischen Ländern, vor Zwangsheiraten, Frühheiraten, vor Schwimmverboten für Mädchen in den Schulen. Wenn Antisemitismus unter Menschen aus arabischen Staaten ignoriert oder mit Verweis auf israelische Politik für verständlich erklärt wird. Oder wenn Kritik am Islam sofort unter den Verdacht gerät, aus Rassismus und einem Hass auf Muslime zu erwachsen. Sehe ich es richtig, dass in diesen und anderen Fällen die Rücksichtnahme auf die andere Kultur als wichtiger erachtet wird als die Wahrung von Grund- und Menschenrechten?

Ja, es gibt Hass und Diskriminierung von Muslimen in unserem Land. Und sich diesem Ressentiment und dieser Generalisierung entgegenzustellen, sind nicht nur Schulen und Politik gefordert, sondern jeder Einzelne. Beschwichtiger aber, die kritikwürdige Verhaltensweisen von einzelnen Migranten unter den Teppich kehren, um Rassismus keinen Vorschub zu leisten, bestätigen Rassisten nur in ihrem Verdacht, die Meinungsfreiheit in unserem Land sei eingeschränkt. Und sie machen sich zum Verbündeten von Islamisten, die jegliche, auch berechtigte Kritik an Muslimen abblocken, indem sie sie als rassistisch verunglimpfen.

Zu viele Zugezogene leben noch zu abgesondert mit Werten und Narrativen, die den Gesetzen und Regeln und Denkweisen der Mehrheitsbevölkerung widersprechen, zu viele leben hier seit vielen Jahren oder gar Jahrzehnten, ohne die Geschichte dieses Landes zu kennen. Um das zu ändern und uns gemeinsam auf eine Zukunft in diesem Land zu verständigen, brauchen wir - wie einst zwischen einheimischen und vertriebenen Deutschen - vor allem eines: mehr Wissen übereinander. Mehr Dialog. Mehr Streit. Mehr Bereitschaft, im jeweils Anderen unseren eigenen Ängsten, aber auch neuen Chancen zu begegnen."

Anmerkung der Redaktion: Der Text basiert auf dem gekürzten Manuskript der Rede, die Joachim Gauck am Mittwoch anlässlich seiner Gastprofessur an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf unter dem Titel "Nachdenken über das Eigene und das Fremde" gehalten hat.

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort