Wachsende Anforderungen in der Schule Jugendliche leiden unter Stress und Druck

Düsseldorf · In NRW leiden immer mehr Kinder und Jugendliche an Depressionen. Hauptgrund ist wachsender Leistungsdruck in der Schule. Doch es mangelt an Psychologen, die die Kinder behandeln können. Die Wartezeiten betragen Monate.

Die 39-Jährige Kinder- und Jugendpsychologin Viktoria Krassilschikov behandelt in ihrer Düsseldorfer Praxis zunehmend Schüler, die unter Stress und Depressionen leiden. Bis zu 120 junge Patienten betreut sie pro Quartal. "Jedes Jahr werden es mehr, die ärztliche Hilfe benötigen", sagt sie. Ein Grund für die steigenden Zahlen sei das sogenannte Turbo-Abitur nach zwölf Jahren. "Depressionen können ausgelöst werden durch Leistungsdruck, was zu Versagensängsten, Resignation und psychosomatischen Auffälligkeiten führen kann", erklärt Krassilschikov.

Doch Therapie-Plätze wie in ihrer Praxis sind rar. Viele Therapeuten in NRW haben eine Wartezeit von mehreren Monaten. Im Ruhrgebiet müssen erkrankte Kinder durchschnittlich 17 Wochen auf ein erstes Gespräch beim Psychotherapeuten warten, berichtet Kay Funke-Kaiser von der Psychotherapeutenkammer NRW. Das sei doppelt so lang wie in anderen Großstädten, in denen die Wartezeit neun Wochen beträgt. Doch selbst das ist aus Sicht der Kammer noch viel zu lang. "Mehr als drei Wochen Wartezeit sind nicht zumutbar", sagt Funke-Kaiser. Wer einen Beratungstermin erhält, müsse dann bis zu einem halben Jahr auf den Beginn der Therapie warten.

"Extremer Druck"

In NRW gibt es im Schnitt einen Schulpsychologen für etwa 10.000 Schüler, in manchen Großstädten liegt die Quote bei einem Psychologen für 5000 Schüler. "Aber auch das ist unterdurchschnittlich", sagt Alexander Klinkner, Schulpsychologe aus Viersen und Sprecher des Schulpsychologischen Dienstes. Zum Vergleich: Im europaweiten Durchschnitt kommen auf einen Psychologen 2000 Schüler. Viele Eltern aus Mittelstand und Oberschicht wollen, dass ihre Kinder aufs Gymnasium gehen, sagt Klinkner. "Viele Schüler machen teilweise bis zu drei Stunden täglich Hausaufgaben. Wenn dann die Noten trotzdem nicht stimmen, setzt das die Kinder extrem unter Druck", sagt er.

Brigitte Balbach, Vorsitzende von Lehrer NRW, sieht im veränderten Schulalltag einen Grund für die Zunahme von Depressionen bei Kindern. "Seit PISA hat sich die Arbeit an den Schulen zu einem Abhak-Lernen verändert. Gelernt wird nicht fürs Leben, sondern für die nächste Studie und die nächste Lernstandserhebung", erklärt sie. "Stress produziert zudem der Irrglaube, der Weg ins berufliche Glück führe allein über das Abitur. Diese auch von der Politik befeuerte maßlose Überbewertung des Abiturs wird langfristig zu dessen Entwertung führen." Den Trend, Kinder mit derartigen Leistungstests über einen Kamm zu scheren, sieht auch Klinkner mit Sorge.

Bei rund 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen — bei Jungen häufiger als bei Mädchen — finden sich Anhaltspunkte für psychische Probleme. Das geht aus der Kiggs-Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland hervor. Besonders häufig sind der Untersuchung nach Angststörungen, gefolgt von Depressionen und den sogenannten aggressiv-dissozialen Auffälligkeiten — darunter fallen Schule schwänzen, Vandalismus, Fortlaufen von Zuhause, Stehlen und häufiges Lügen.

"Es kommt auf das Kind an"

Ob es bei Kindern zu einer Depressionen kommt, sei höchst individuell, sagt Viktoria Krassilschikov. "Es kommt auf das Kind an. Es spielen Faktoren wie soziale Netzwerke, familiäre Strukturen, Intelligenz und Selbsteinschätzung eine Rolle, ob ein Kind erkrankt oder nicht", erklärt die Düsseldorfer Psychologin.

Es sind nicht nur Schüler, die unter zu viel Stress leiden. Auch Erwachsene klagen immer häufiger über eine zu hohe Arbeitsbelastung. Das geht aus dem "Stressreport Deutschland 2012" der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) hervor, der gestern in Berlin vorgelegt wurde. Demnach fühlt sich fast jeder fünfte Arbeitnehmer überfordert — und 43 Prozent der Berufstätigen in Deutschland klagen über wachsenden Stress. Für die Studie wurden bundesweit fast 18 000 Arbeitnehmer zu psychischen Anforderungen, Belastungen und Stressfolgen ihres Arbeitsalltags befragt. Ergebnis: Anforderungen und positive Aspekte im Berufsalltag haben sich seit 2005/2006 "auf hohem Niveau" kaum verändert. "Dieser Stress der Eltern überträgt sich häufig auch auf die Kinder", sagt der Viersener Schulpsychologe Alexander Klinkner. "Wenn Eltern schon am Limit agieren, ist es auch für die Kinder schwierig, entspannt zu bleiben."

Kinder und Jugendliche, die unter permanentem Stress leiden, benötigen nach Einschätzung von Viktoria Krassilschikov neben medizinischem Rat auch eine gezielte Unterstützung durch ihre Eltern und Lehrer, um wieder gesund werden zu können. "In manchen Fällen ist ein Schulwechsel unumgänglich", sagt sie. Auf jeden Fall müsse der Erwartungsdruck auf das Kind reduziert werden. "Erkrankten Kindern und Jugendlichen sollte man positive Erfolgserlebnisse ermöglichen. So kann man sie wieder aus dem Tal herausholen und ihnen neuen Lebensmut geben."

(RP/anch/csi)
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