Kolumne Heimatreport Kaum Neues an der Neustraße

Düsseldorf · Neu ist lebensfroher als alt und gleichbedeutend mit besser: Zu Neujahr eine Fahndung nach dem Neuen in der Altstadt

 Das Neue steht in der Galerie Hans Meyer noch mit dem Gesicht zur Wand. Die Kunstwerke sind für die nächste Ausstellung vorgesehen.

Das Neue steht in der Galerie Hans Meyer noch mit dem Gesicht zur Wand. Die Kunstwerke sind für die nächste Ausstellung vorgesehen.

Foto: Anne Orthen

Ungefähr eine Stunde, bevor ich begann, Passanten mit einer kurzen Frage ins Grübeln zu bringen, betrat ich die "Galerie Hans Mayer". Der Eingang befindet sich am Anfang der Neustraße, nur ein paar Schritte von der Kunstsammlung NRW entfernt. Die graue, massive Stahldoppeltür der Galerie sieht aus, als könnte sie auch bei Banktresoren zum Einsatz kommen. Ich drückte die Tür auf. Kein Mensch drinnen. Bunte, verschiedenartige Kunst schmückte die Wände, neue Bilder, die bald ausgestellt würden, standen am Boden. Alles, was ich sah, gefiel mir. Angefangen von den großzügigen Räumlichkeiten bis hin zum kleinsten ausgestellten Bild. Eine Mitarbeiterin kam die Treppe heruntergeeilt und nahm am Schreibtisch Platz. Ich fragte: "Können Sie mir sagen, was das Neue an der Kunst ist, die Sie hier zeigen?" Sie: "Das sind alles junge afrikanische Künstler." Ich: "Und das Neue daran?" Sie: "Dass Kunst aus Afrika gar nicht so anders aussieht als unsere." Ich: "Ganz normale Kunst also?" Sie lachte.

Seit hundert Jahren beschäftige ich mich mit dem Begriff des Neuen, ohne dass ich seinen Zauber enträtselt hätte. Sicher ist, dass das Neue dich auf Schritt und Tritt verfolgt. Auf jedem zweiten Produkt im Supermarkt prangt das Wörtchen 'neu', das deutlich lebensfroher klingt als 'alt'. Außerdem ist 'neu' immer auch gleichbedeutend mit 'besser' - hier hat die Marketing- und Mythenindustrie ganze Arbeit geleistet. Ähnlich verhält es sich mit den Jahren: Alle zwölf Monate kommt ein neues heraus. Ein Leben lang geht das so, jedes Jahr das gleiche Spiel, immer an Silvester ein Riesenbrimborium, obwohl du mit fortschreitendem Alter feststellst, dass viele Jahre mehr oder weniger identisch waren. Obwohl alles Neue im Rückblick alt aussieht, hört das Neue nicht auf, dir den Kopf zu verdrehen - dauernd erwartest du, dass es dich bereichert. "Was gibt's Neues?" lautet die wahrscheinlich beliebteste Eröffnungsfrage in Gesprächen weltweit. "Was gibt's Neues?" lautete auch die Frage, die ich allen möglichen Menschen in der Neustraße stellte. Die Straße hatte ich deshalb aufgesucht, weil ich an das glaube, was man Genius Loci nennt, also einen Ort, der mit einem Geist beseelt ist. Und weil sie in der Altstadt liegt. Womit das Dilemma, die Dialektik von Alt und Neu, quasi schon stadtplanmäßig entfaltet ist.

Erst versuchte ich, bei den Künstlern, die in den Galerien an der Neustraße ausgestellt sind, Neues in Erfahrung zu bringen. Das Neue an der afrikanischen Kunst? Dass sie nicht neu aussieht! Die Altmeister vom Range eines Penck, Schnabel oder Ramos, die ein paar Meter neben Hans Mayer bei "Geuer & Geuer Art" ausgestellt sind, hatten zwar taufrisch produzierte Werke am Start. Aber nehmen wir nur mal Mel Ramos, den 81 Jahre alten US-Pop-Art-Künstler, der mit Bildern junger, schöner, nackter Frauen berühmt geworden ist. Die neuen Werke, die er bei Geuer & Geuer ausgestellt hat, zeigen genau das: junge, schöne, nackte Frauen. Mal auf einer überdimensionalen Zigarre sich rekelnd, mal durch ein Schlüsselloch betrachtet. Wenn man nicht wüsste, hey, das ist Mel Ramos, der Großvater der Pop Art und Pin-Up-Kunst, Weggefährte von Gottvater Warhol, würde man sagen: Was für ein reaktionärer gottverdammter Porno-Kitsch!

Nicht einmal in der großartigen Buchhandlung Walther König, ebenfalls am Eingang der Neustraße, konnte man mir Neues über das Neue anbieten, außer dem Buch "Über das Neue" von Boris Groys, das aber erstens nicht vorrätig war, das ich zweitens schon besitze und in dem ich drittens noch nie über die ersten Seiten hinausgekommen bin, weil ich sie nicht verstehe. (Dass ich etwas nicht verstehe, ist ebenfalls nicht neu.)

Weil ich es nicht fassen konnte, an der Neustraße so wenig Neues zu Gesicht zu bekommen, sprach ich wildfremde Menschen an. Ich stellte mich ihnen in den Weg und sagte: "Guten Tag, kurz vor Neujahr eine Frage: Was gibt's Neues?" Fast alle antworteten. Und mir wurde klar: Kein Wunder, dass die Industrie so viele Milliarden in die Werbung für Neuheiten steckt - die müssen so viel reinstecken, weil die Sachen nur mit einem Monstermarketingdruck in den Markt zu quetschen sind. Denn die meisten Menschen tun zwar so, als interessierten sie sich für Neues. In Wahrheit aber kann ihnen das Neue gestohlen bleiben, so wie Mel Ramos neue Bildideen gestohlen bleiben können.

Es ging los mit einem Mitarbeiter im Kiosk Miami. Er sagte, in seinem Leben gebe es schon seit Jahren nichts Neues mehr. Dann lächelte er versonnen und sprach: "Heute wie gestern, gestern wie morgen." Ist das nicht reine Poesie? Ich richtete meine Frage an zwei Jungs im Schüleralter. Einer sagte: "Keine Ahnung." Der andere: "Ich bin nicht von hier." Zwei Frauen mittleren Alters kamen mir entgegen, sie erwiderten wie aus einem Mund: "Nix Neues. Alles beim Alten!" Ein Paar, vielleicht Mitte dreißig, ging eingehakt an mir vorbei. Nach kurzem Nachdenken warf mir die Frau als Antwort zwei Worte über die Schulter: "Viel Ärger." Ein Obdachloser haute mich um Geld an, ich sagte, sehr gerne, aber nur im Gegenzug für eine Antwort auf meine Frage. Darauf sagte er, dass er das Gefühl habe, stillzustehen. Nichts passiere.

Die Ergebnisse meiner empirischen Studie in der Neustraße decken sich mit den Ergebnissen der Innovationsforschung, welche belegt, dass das Neue im Leben der meisten Menschen so gut wie keine Rolle spiele. Sie stehen dem Neuen immer zuerst ablehnend gegenüber, denn das Neue, das wahrhaft Neue, verunsichert, macht Angst. Die Ergebnisse decken sich auch mit den Ergebnissen bei der jüngsten US-Wahl - die meisten Menschen wollen nichts Neues. Sie wollen das Alte, das Steinalte, sie wollen in die Steinzeit zurück und zugleich das Gefühl haben, dass ihre eigene Zeit noch lange nicht vorbei ist, sondern erst noch kommt. Dennoch kriegt man keine Produkte an den Mann, auf denen 'ALT' steht. Verstehe einer den Menschen!

Ein junges Paar kam vorbei, der Mann erwiderte nach einigem Nachdenken: "2017 ist neu!" Ja, dem neuen Jahr stehen die Menschen zustimmend gegenüber, vermutlich, weil sie wissen, dass es so neu schon nicht sein wird. Sozusagen die älteste Neuheit der Welt. Und weil es so oder so kommt, ob du willst oder nicht. Kann natürlich auch sein, dass ich nur deshalb so wenig Neues in der Neustraße zutage fördern konnte, weil der Genius Loci dort nicht mehr das ist, was er einmal war. Außerdem muss es auch einen Grund haben, dass sie ausgerechnet in der Altstadt liegt.

(RP)
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