Düsseldorf Auf gepackten Koffern

Düsseldorf · Mike Kennys Flüchtlingsdrama "Der Junge mit dem Koffer" bewegt das Publikum bei der Premiere im Jungen Schauspielhaus.

Neulich habe ich Achmed kennengelernt, 16 Jahre alt, mittellos. Mager ist der Junge, hat schwarzes lockiges Haar, dunkle Augen. Er fühlt sich alleine. Das sagt er ernst. Er ist derzeit in einem Flüchtlingsprojekt beschäftigt, das Verzweifelte auffängt und aufmuntert. Achmed malt Bilder von der Flucht und von Zuhause. Er druckt diese auf Stoffe. Um seine Erlebnisse zu verarbeiten. Er bedeutet mir mit Gebärden und Wortfetzen, dass er aus Afghanistan stammt. Und dass er zu Fuß nach Deutschland gekommen ist. Ich kann das nicht glauben.

Und doch stimmt es. Fast 5000 Kilometer Flucht hat Achmed hinter sich, Hunderte lange Märsche inmitten von Menschen-Karawanen. Unendliche Gefahren, Einsamkeit, Härte, Kälte, Brutalität, Kriminalität, Krankheit, Hunger, Durst, Traurigkeit, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit und Heimatlosigkeit. Das Schlimmste: "Es gibt kein Zuhause mehr". Das hat mir Achmed gesagt. Es ist derselbe Satz, den auch "Der Junge mit dem Koffer" im Jungen Schauspielhaus im gleichnamigen Stück zu Beginn ausspricht.

Dort, auf der Bühne, ist es Naz, der sich später Sindbad nennt und wie Achmed aufbricht zu einer langen Reise, die eine Flucht ist. Man will Krieg und politisches Unrecht hinter sich lassen. Wie der kleine Naz machen sich Millionen Menschen auf in ein vermeintlich gelobtes Land auf der anderen, der Sonnenseite der Welt. Dazu geben sie alles auf. Familien trennen sich, Welten zerbrechen, Bande zerreißen. Millionen von Menschen werfen ihr altes Leben über Bord und glauben an etwas, das nur selten in Erfüllung geht. Unvorstellbar groß ist ihre Not. Mike Kenny, britischer Autor, hat sein packendes, wenn auch nüchtern erzähltes Flüchtlingsdrama vor sechs Jahren für die Bühne aufgeschrieben, als noch niemand ahnte, mit welcher Wucht die Flüchtlingsfrage den Kontinent Europa herausfordern und unter Druck setzen würde. So passt es jetzt genau in die Zeit.

Der junge Naz ist nur einer von Millionen, der sich aus der Obhut seiner Eltern losreißen muss und Richtung London aufbricht, wohin schon sein Bruder zuvor geflüchtet ist. Ihm soll es dort gutgehen, was sich später als Lüge erweist. Für die Überfahrt der Eltern reicht das Geld nicht, das die Schlepper verlangen. Der Trennungsschmerz ist groß. Doch schnell ist der Junge nicht mehr allein, denn ein gleichaltriges Mädchen, Krysia, ist wie er auf dem Weg nach London. Gemeinsam meistern die zwei den schicksalhaften Weg, verlieren sich einmal und finden sich doch irgendwie wieder.

Das Junge Schauspielhaus verwandelt sich unter den ideenreichen Maßnahmen der niederländischen Regisseurin Liesbeth Coltof in einen exemplarischen Ausschnitt der Realität, in der wir Europäer leben. Coltof hat den ganzen Raum inklusive Sitzreihen als zweigeteilte Welt konstruiert. In der Mitte steht ein hohes Spielgerüst, das Haus und Schiff sein kann, Gebirge oder Fabrik. Begrenzt wird das Spielfeld durch einen hohen Metallzaun, der denen ähnelt, die derzeit an manchen Grenzen hochgezogen werden.

Das Publikum nimmt auf Gepäckstücken Platz, auf den rund 180 Koffern, Taschen und Paketen, die im Raum verteilt sind. Kurz vor Schluss bricht auch das Publikum im dunklen Teil der Welt auf, packt die Gepäckstücke und bewegt sich in einem zähen Flüchtlingsstrom auf die andere Seite, wo Naz nach seinen Abenteuern gelandet ist und den Bruder gefunden hat. Auf dieser Seite der Welt wird es dann sehr eng.

Kennys Stück erzählt aufrüttelnd das, was wir jeden Tag in den Nachrichten sehen. Naz ist einer, der das Schreckliche durchlebt und darüber berichtet. Die Geschichten, die er von früher kennt, erzählt er in Not. Sie retten ihm und Krysia das Leben. Behutsam dosiert die Regie die Gefahr, der Sound von Krieg und Unheil ist zurückhaltend. Beim Ensemble gibt es nur Bestleistungen: Den Naz gibt Bernhard Schmidt-Hackenberg, die Krysia spielt Julia Goldberg. Maelle Giovanetti, Alexander Steindorf und Jonathan Schimmer gewinnen in vielen Rollen, so ungekünstelt und eindringlich sind sie. Es ist ein Stück ohne Lachen. Dafür ein Applaus, der für die ganze Spielzeit reichen würde.

(RP)
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