Lea Singer Das faszinierende Phänomen der Hörigkeit

Düsseldorf · Die Münchner Autorin liest am Montag aus ihrem neuen Roman über Benn und die Frauen.

 Lea Singer.

Lea Singer.

Foto: H&C

Mopsa Sternheim verfällt als junges Mädchen im Kriegswinter 1917 dem erfolgreichen Dichter Gottfried Benn. Gemeinsam mit ihrer Mutter Thea Sternheim erhitzt sie sich für Benns Lyrik, beide buhlen um die Gunst des Autors. Aus ihrem neuen Roman "Die Poesie der Hörigkeit" liest Lea Singer (56) am Montag, 12. Juni, um 19.30 Uhr in der Orangerie Benrath, Urdenbacher Allee 6.

Wie gefährlich ist es, historische Gestalten - zumal aus Künstlerkreisen - zu Romanfiguren zu machen?

Singer Es ist riskant, weil der Roman vom Subjektiven und Fiktiven lebt. Seinen Gestaltungsfreiraum abzustecken, liegt im Ermessen des Schriftstellers. Uns ist heute oft gar nicht mehr bewusst, wie viele Romane der Weltliteratur sich einer historischen Figur widmen. Ich versuche, mich des Urteils zu enthalten, in diesem Fall Benns Handeln nicht zu bewerten, sondern nur nahezubringen.

"Die Poesie der Hörigkeit" - das klingt so, als sei die Faszination für Benn seiner Dichtung geschuldet . . .

Singer Mir scheint, als habe die Bannkraft dieses Mannes, den Mopsa Sternheim "böse und dick und scheußlich" nannte, in seiner fast schamanistischen Suggestionskraft gelegen. Er war sich seiner Kunst bewusst, das verletzende, verführende Wort zu finden. Das Wort, das in Hirn und Seele und Unterleib trifft.

Welches Verhältnis haben Sie zu Benn gewonnen?

Singer Ich bin noch stärker als zuvor dem einzigartigen Sound seiner Lyrik erlegen, die heute ebenso polarisiert wie damals. Und ich bin ihm näher gekommen, weil er mir ferner rückte. Und dann wurde mir bewusst, dass Benn zu jenen Männern gehört, die die Kraft aus Frauen saugen, um sie als energetisches Potenzial für ihr Werk zu nutzen.

Wie groß war Ihr Ehrgeiz, das Wesen der Hörigkeit zu ergründen?

Singer Den Ehrgeiz hatte ich nicht. Ich betrachte die Tatsachen und stelle nicht die Frage: Wie konnte Sternheim Benn verfallen?Ich frage mich nur: Wie ging es vor sich? Das Phänomen Hörigkeit fasziniert, weil es der Ratio zuwiderläuft.

Wie historisch ist Ihr Roman? Anders gefragt: Wie modern ist er?

Singer Ein historisches Ereignis interessiert mich nur, wenn es mich anspringt, weil es in seinem Inneren brandaktuell ist. Sonst wäre die Ausgrabung des Stoffes eine Exhumierung, mehr nicht. Mopsa Sternheim gehörte zu einer Generation von Deutschen, die in ihrer Jugend unter dem litten, was Ernst Toller "die ethische Lücke" nannte. Sie hat damals die Menschen gefährdet und gefährdet sie heute. Denn wer sie füllt, herrscht. Was sie füllt, entscheidet. Das war bei entsetzlich vielen von Mopsa Sternheims Zeitgefährten das Ideengift der Nationalsozialisten. Wenn ich wieder einmal lese, dass junge Frauen, sogar Mädchen, die sich nur mit der Schicksalsfrage: "Nagellack mit oder ohne Glitter?" befassen, in eine Nacht- und Nebelaktion losziehen, um IS-Milizen zu heiraten, dann denke ich daran. Und wenn ich lese, dass junge Männer, die zu Dschihadisten geworden sind, erklären: "Es hat sich endlich jemand für mich interessiert", dann denke ich auch daran. Bei Mopsa Sternheim füllte die ethische Lücke die Lyrik von Benn.

LOTHAR SCHRÖDER STELLTE DIE FRAGEN.

(RP)
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