Düsseldorf Ein roter Teppich und 84.000 Kussmünder

Düsseldorf · Bei der Ausstellung "...nach Glamour" im KiT finden elf Künstler erschütternde Formen für die aktuellen Entwicklungen in der russischen Gesellschaft.

 "Isolation" heißt die Performance von Olya Kroytor. Zwei Stunden verharrt die russische Künstlerin hoch über dem roten Teppich.

"Isolation" heißt die Performance von Olya Kroytor. Zwei Stunden verharrt die russische Künstlerin hoch über dem roten Teppich.

Foto: Ivo Faber

Die junge Frau hat ihren Körper mit weißen medizinischen Binden umwickelt. Hoch oben, an der Spitze eines roten Teppichs, verharrt sie. Wie angenagelt. Unerreichbar. Enthoben. Überirdisch. Was bewegt Olya Kroytor bei ihrer Zwei-Stunden-Performance, die sie "Isolation" nennt? Worauf spielt sie an?

Die Arbeit ist nicht zufällig 2014 entstanden, in einer Zeit, als bürgerliche Proteste Russland erschütterten. Man rechnete ab mit der Vergangenheit, der Epoche nach der Jahrtausendwende, als das postsowjetische Russland vom Glamour erobert worden war und Glamour die Gesellschaft mit den aus dem Westen bekannten und dort propagierten Klischees durchdrang. Glamour wurde in Russland Wort des Jahres. Vladimir Putin setzte glamouröse Effekte im Wahlkampf ein, indem sich der Präsident männlich, westlich und potent inszenierte.

Glamour adé heißt die Losung einer jungen Künstlergeneration, die sich einig ist, den wichtigeren Dingen und Werten wieder Gewicht zu verleihen: Nachhaltigkeit, neue Urbanistik, Rationalität und Ökologie. Auch lässt sich in der Performance von Olya Kroytor vielerlei lesen neben der Anmut der Aktion. Auf roten Teppichen marschiert die Armee. Rote Teppiche tragen die Farbe des Blutes. Und wer genau hinschaut, macht eine Speerspitze aus, die in die Mitte des menschlichen Leibes stößt. Schaurig-schön.

Elf russische Künstler der jüngeren Generation sind zu Gast im Ausstellungsort KiT (Kunst im Tunnel), um unter dem Titel "...Nach Glamour" eine Analyse zur aktuellen Entwicklung der russischen Gesellschaft zu verbreiten. Zum Glück tun die Künstler dies nicht mit intellektuell überfrachteten Arbeiten, sondern mit ebenso begeisternden wie erschütternden Formaten und Mitteln. Die Kuratorinnen Natalia Gershewskaya und Jewgenija Tschuikowa haben die besten Arbeiten aus dem Moskauer Museum für moderne Kunst zusammengezogen. Das Museum hat bei der einjährigen Vorbereitungszeit gut mit den Partnern in Düsseldorf kooperiert.

Selten ist die Kunst so beredt, hält subtile Geschichten vor hinter Leinwänden, in Kammern, auf Videos oder in einer animierten Großinstallation. Es sind sicher 30 rosa Plüschhasen, die Schlange stehen, um sich auf Rädern abstrampeln zu dürfen. Ein Bild, das von der Anstrengung berichtet, Normen zu erfüllen - Rostan Tavasiev stellt ein Video und Musik dazu. Am anderen Pol der Gefühle wählt der Maler Viktor Kirillov-Dubinskiy den Körper aus, um zu erzählen, was wichtig ist. Ungeschönt hat sich sein weibliches Modell vor ihm ausgebreitet - ganz ohne Glamour, ein bisschen rundlich, enthemmt und natürlich.

Das ewig Weibliche fängt sich in vielen Details: Tausende künstliche Fingernägel - einst begehrte teure West-Ware - fügen sich zu den minimalischen Bildtafeln von Elena Berg, die Rotlackierten formieren sich aufrecht wie Soldaten einer Armee. Auf fünf pointillistischen Tafelbildern hat die in Düsseldorf lebende Jewgenija Tschuikowa 84.000 Küsse in verschiedenen Lippenstift-Farben aufgebracht. Konzeptionell ist das angelegt; nur in Titeln wie "First love" klingt Sinnlichkeit an.

Krass ist das als Folterkammer getarnte Fotostudio, in dem die Vermessung des männlichen Penis vor einem Spiegel bitterbös' parodiert wird. Vikenti Nilin spielt an aufs Protzen mit Potenz. Rollenbilder greifen auch Vadim Gushchins Fotoarbeiten auf oder die Plakatserie von Konstantin Latyshev mitten aus der russischen Gesellschaft. Siamesische Zwillinge verklebt Leonid Sokhranski in einem Schauerkabinett mit goldenen Broten, Anna Zhelud errichtet der Konsumgesellschaft ein Denkmal mit ihren Kleiderstangen, auf denen die Klarheit der Leere Ausdruck findet.

Die erschütterndste Geschichte, verdanken wir Andrey Kuzkin. Aus der Gefangenschaft des sozialen Scheins wollte er sich befreien, hat dazu sein ganzes Leben in 25 Eisenkisten gepackt, sogar seine Haare, deren letzte Rasur man in der Videoarbeit ansieht. "Kunst ist Leben" sagt er, und dass erst nach 29 Jahren die Kisten geöffnet werden dürften. Dann schließt sich für ihn ein Kreis. Mit 33 Jahren starb sein Vater, und wenn sein eigener Sohn 33 ist, wird das Familienleben neu entblättert. Das Staunen ist dann sicher groß.

(RP)
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