Analyse zum Düsseldorfer "Tannhäuser"-Streit Freiheit und Grenzen der Kunst

Düsseldorf · Der Düsseldorfer "Tannhäuser"-Streit erinnert auch an die großen Kunstskandale der Republik. Das Recht auf Kunstfreiheit ist dabei regelmäßig auf Seiten der Theaterleute, der Opernregisseure und Künstler.

Ein Zyniker meinte dieser Tage, mit folgendem Warnhinweis im Programmheft sei Rheinopern-Intendant Christoph Meyer gewiss aus dem Schneider: "Zuschauern, die unter Herzproblemen leiden, jüdischen Glaubens sind, Verwandte in einem Konzentrationslager verloren haben und von sensibler Natur sind, sehen die heutige Vorstellung auf eigenes gesundheitliches Risiko. Kinder sind vom Besuch ausgeschlossen."

Meyer hat aber gar nicht gewarnt, er lässt — weil Regisseur Kosminski kein Jota an seiner Inszenierung ändern wollte — den Düsseldorfer "Tannhäuser" seit der zweiten Vorstellung konzertant spielen, und es geht ein Raunen durch die Musikwelt. Die einen sind froh, dass ihnen Gaskammern, NS-Schergen und eine entsetzliche Exekutionsszene erspart bleiben; die anderen hätten die Produktion trotz des Unbehagens gern sehen wollen, um sich eine eigene Meinung zu bilden. Wieder andere hätten die Transformation von der Wartburg nach Auschwitz gern erlebt, mit dem neuen Tarantino-Film verglichen und die Oper, mit der sie sonst nichts am Hut haben, endlich thrillermäßig gefunden.

Tadel für den "feigen" Intendanten

In öffentlichen Foren überwiegt der Tadel für den "feigen" Intendanten, der sich den Buhrufern gebeugt habe. Meyer wollte indes vermeiden, dass wie nach der Premiere mehrere Besucher der Aufführung zum Arzt mussten. Das war eine verständliche Entscheidung. Ein Opernfreund malte den (unwahrscheinlichen) Fall aus, dass in einer Folgevorstellung trotz Vorwarnung ein Besucher einen Infarkt erlitte und im Parkett verstürbe: Meyer würde dann von jenen Medien, die jetzt seine Verzagtheit geißeln, wie eine Sau durch die Republik getrieben. Es handelt sich also womöglich um den raren Fall, dass die Kunstfreiheit vom Schutz der körperlichen Unversehrtheit begrenzt wird.

Hätten diejenigen, die der Rheinoper Zensur vorwerfen, ohne das Zensierte zu kennen, diese "Nazi-Inszenierung" cool, geistreich, aufarbeitend gefunden? In jedem Fall befinden wir uns in der Grauzone zwischen Geschmack und Kunstfreiheit. Die Kunst darf viel mehr, als ihr der Geschmack zubilligt. Kunst darf stören, verstören, und sie darf den "Faust" im KZ oder auf Sylt spielen lassen. Ist der Regievertrag unterschrieben, gilt die Inszenierung als schützenswert. Beleidigungen sind freilich unzulässig. Die Satirezeitschrift "Titanic" darf die Kanzlerin verhohnepipeln, aber nicht beschimpfen.

Nackte auf der Bühne

Andererseits ist der Boulevard der Meinung gelassen geworden. Die großen Skandale der Kunstwelt waren oft nur kleine Stürme im Wasserglas. Wie war das bei Jürgen Goschs Düsseldorfer "Macbeth"-Inszenierung? Sie erschütterte als Exkremente-Orgie das Rheinland, bis die Position Goschs so klar geworden war, dass alle Welt nach Karten gierte und hinterher von einem Theater-Erlebnis sprach.

Nackte auf der Bühne oder an öffentlichen Orten (erinnern wir uns an die eher unterhaltsamen als beängstigenden Aktionen von Spencer Tunick etwa vor einigen Jahren in Düsseldorf) haben längst ihre Irritationskraft verloren, sie sind gute alte Bekannte — ebenso wie die blasphemischen Rituale auf Theaterbühnen, die Unzucht von Bischöfen mit Ministranten ermöglichen. Die Verbotskeule wird dann immer noch regelmäßig geschwungen, aber in der Regel lösen Debatten oder die Zeit das Problem. Einige fordern natürlich stets den Abbau der Subventionen für die Kunst.

Nun, es ist das Recht des Publikums, sich zu erregen und Buh zu rufen. Manche Künstler stehen dann erst einmal einsam im Regen oder tief im Blut — wie der Aktionskünstler Hermann Nitsch, der in "Orgien-Mysterien-Theater" mit Kadavern und Körpersäften experimentierte, anfangs öffentlich bespuckt wurde, es später aber sogar ins Burgtheater schaffte.

"Geschmacklose als Aufführung"

Julian Krüper, Verfassungsrechtler an der Düsseldorfer Heinrich-Heine-Universität, beurteilt die Gemengelage so: "Die Aufgabe der Kunstfreiheit ist es, einen Freiraum zu schaffen, innerhalb dessen sich die Künstler entscheiden können, wie sie den verschiedenen ,Regeln der Kunst' folgen oder diese auch brechen wollen. Die Kunstfreiheit will ermöglichen, dass das noch nie Gesehene, das nie Gehörte und auch das Unerhörte oder Geschmacklose zur Aufführung kommen kann."

Das bedeute nicht, dass Grundrechte der Zuschauer ihr bedingungslos weichen müssten. Zu ihnen zähle auch die körperliche Unversehrtheit. Krüper: "Dabei führt noch nicht der Umstand, dass sich Zuschauer gesundheitlich beeinträchtigt fühlen, zu einem zwingenden und vollständigen Zurücktreten der Kunstfreiheit. Vielmehr muss ein konkreter Ausgleich der Interessen gefunden werden, den Juristen ,verhältnismäßig' nennen."

Krüper folgert: "Die Intendanz stand daher nicht vor der Entscheidung ,Spielen oder absetzen?', sondern vielmehr vor der Entscheidung ,Wie spielen?'. Da der Regisseur zu Änderungen nicht bereit war, hätten andere Maßnahmen Platz greifen sollen, insbesondere Hinweise an das Publikum." Dadurch wäre die Oper, so Krüper, ihrer rechtlichen Verantwortung für das Wohlergehen des Publikums mehr als gerecht geworden. Die Absetzung verschließe in "gutgemeintem Paternalismus den Diskussionsraum, den die Kunstfreiheit gerade erhalten" wolle.

Fraglos ist die konzertante Spielweise des "Tannhäuser" akzeptabel, aber nicht erfreulich. Wer Burkhard C. Kosminskis Regie kennt, darf sie weiterhin falsch im Ansatz finden, übertrieben mit SS-Requisiten fuchtelnd, widerlich in ihren Bildern — aber tatsächlich wird sie vermisst. Ein wahrhaft singulärer Fall. Man darf seine Meinung auch zweimal ändern. Kosminski und Meyer sollten sich bewegen und den vermaledeiten "Tannhäuser" zeigen — und zwar in einer Variante, mit der beide Seiten und vielleicht auch Notärzte und Juristen leben können. Das ist nicht so undenkbar, wie es scheint. Man muss es nur wollen.

(rl)
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