Düsseldorf Karl Heinz Bohrer macht Lust aufs Denken

Düsseldorf · Grandioser Abend: Der 84 Jahre alte Gegenwartseuphoriker stellte im ausverkauften Heine-Haus seinen Erinnerungsband "Jetzt" vor.

Und dann liest Karl Heinz Bohrer endlich, und sein Vortrag ist militärisch, wobei die Härte des Rapports durch das Mikrofon geradezu etwas Elektrisches bekommt; da ist ordentlich Alarm drin. Man hört, dass da einer Erfahrung hat im Vortragen, er rhythmisiert, er ist schnell, aber er bringt die kantige Sprache in einen Groove, es fließt und rauscht und reißt einen mit. Bohrer spricht über den Silvestertag 1970, da rief gegen Mittag Jürgen Habermas an, der ein bisschen unruhig war, weil er immer noch keine Verabredung für den Abend hatte. Bohrer gab damals eine Party, also lud er Habermas ein, und der kam und hatte seinen Assistenten von der Uni im Schlepptau. Alle trugen Anzug oder Smoking, nur der Assistent war in Jeans und Pullover da und außerdem links bewegt und ziemlich angetrunken. Er beschimpfte die männlichen Gäste als Ausbeuter und Pinguine und die Frauen als deren Huren. Irgendwann kam es zum Handgemenge: Geschrei, Fäuste, bisschen Blut. Bohrers Fazit: Sonst kritisierte der Mann die Gesellschaft theoretisch, an jenem Tag tat er es praktisch.

Einer der spannendsten Denker der vergangenen Jahrzehnte liest im Heine-Haus, er stellt seine Autobiografie vor, und sie heißt "Jetzt". Der Titel könnte treffender nicht sein, denn Karl Heinz Bohrer lebte stets in großer "Erwartungserregung", wie er es selbst nennt, und das hat sich nicht geändert: Der 84-Jährige ist ein augenblickssüchtiger Gegenwartseuphoriker, der die Fantasie vor der Banalität des Alltäglichen zu retten versucht. Er promovierte über die Romantik, und 1968 wurde er Literaturchef der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Sechs Jahre später löste ihn Marcel Reich-Ranicki ab, das empörte viele große Köpfe der Republik, und sie schrieben an die Herausgeber der FAZ, wie man denn einen Mann einsetzen könne, dessen Literaturbegriff aus dem 19. Jahrhundert stamme. Bohrer beschreibt diese Zeit sehr eindrucksvoll in seinem Buch. Da geht er spazieren, und eine Limousine hält neben ihm. Darin sitzt sein Herausgeber, und Bohrer denkt noch, dass sich einer seiner Mitarbeiter mal wieder allzu positiv über die Studentenbewegung geäußert habe und er nun dafür getadelt werde. Aber der Herausgeber sagte, Bohrer habe doch mal erwähnt, dass er gerne von London aus arbeiten würde, und man sei zu dem Schluss gekommen, dass das tatsächlich eine gute Idee sei. Fortan berichtete Bohrer aus der englischen Hauptstadt.

Stephan Schlak, Chefredakteur der "Zeitschrift für Ideengeschichte", moderiert den Abend im Heine-Haus, und während er Bohrer rühmt ("In Berlin ist er Stadtgespräch, sein Buch das intellektuelle Ereignis"), sitzt der mit verschränkten Armen still daneben, die Lesebrille auf der Nasenspitze, die Unterlippe aufgeworfen, den Blick auf den Tisch geheftet. Schlak sagt kluge Sachen, dass Bohrer wetterfühlig für die Stimmungen der Zeit sei etwa. Und dass das Nachkriegs-Deutschland in seinen Erinnerungen so exotisch wirke, surrealistisch beinahe, weil Bohrer eine exzentrische Persönlichkeit sei, die bewusst nirgendwo dazugehört und lieber vom Rand aus die Dinge betrachtet.

Bohrers Sprache ist schmucklos und klar, sein Lese-Stil passt dazu, und umso stärker treten Formulierungen hervor wie jene über die Atmosphäre des Jahres 1968. Die Erwartungen kommender Ereignisse färbten alles ein, schreibt Bohrer. "Es war, als hätten die Bäume eine andere Farbe angenommen."

Sie haben alle ihre Auftritte, Jürgen Habermas vor allem, der drei Jahre ältere Philosoph, zu dem Bohrer gleich beim ersten Treffen eine Verbundenheit spürt: "Allerdings hat er keinen Sinn für Ästhetik. Er sucht in der Literatur immer nach Ideen. Das habe ich ihm auszutreiben versucht, aber es hat nicht geklappt." Auch Enzensberger kommt vor, den Habermas einmal einen "Narren am Hof der Scheinrevolution" nennt. Und Thomas Bernhard, und zwar in einer grandiosen Passage, in der der Schriftsteller Bohrer in der Redaktion besucht, um mit ihm "eine Rindswurst" in der Kantine zu essen. Bohrer hatte Bernhards Erzählung "Amras" gelesen und hielt sie für "die Revolution, eine Zeitenwende, einen Anfall des Lebens". In der Begegnung mit Bernhard spürt Bohrer indes "das Sekundäre der Kritik gegenüber der Literatur". Vielleicht sprachen die beiden deshalb kaum miteinander. "Es ergab sich eine existenzielle Parallelität im Schweigen."

Wie stark Bohrer noch immer fasziniert, wie anziehend dieser Mann wirkt, der von der Intelligenz der Studentenführer Dutschke und Krahl schwärmt und mit Ulrike Meinhof befreundet war und nun sagt, dass nach dem Tod der Baader-Meinhof-Bande die Tagträumereien der Studentenbewegung beendet gewesen und Deutschland entpathetisiert und profanisiert worden sei, lässt sich am enormen Zuspruch ablesen. Das Heine-Haus ist rappelvoll, man nickt, erinnert sich, trinkt Weißwein und kichert, als Bohrer von Bazon Brock erzählt, dem "Schwätzer", den er so gerne hat, weil er gelbe Schilder mit solchen Wahrheiten bedrucken ließ: "Der Tod, diese verdammte Schweinerei, muss endlich aufhören".

Nach dem Abschied von der FAZ habilitiert Bohrer sich und gibt von 1984 an die Zeitschrift "Merkur" heraus. Er lebt in Paris mit seiner Frau, der 2002 gestorbenen Schriftstellerin Undine Gruenter, und er pendelt von dort nach Bielefeld, wo er lehrt. Am Ende dieses Abends im Heine-Haus wünscht man sich, man könnte wieder studieren, man spürt den Drang, an literarischen Gesellschaften teilzunehmen, zu diskutieren und Heine zu lesen, und man beschließt, daheim den lakonischsten und weisesten Satz aus Bohrers Buch in ein Notizheft zu schreiben: "Man konnte nur sagen: Das alles gibt es."

(hols)
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