Düsseldorf "Orestie" ohne Götter am Schauspielhaus

Düsseldorf · Zum Auftakt der Spielzeit inszeniert Simon Solberg die Tragödie als kompakte Geschichte der Gewalt - und wagt einen Ausblick.

Agamemnon hat zu viel Blut gesehen. Der griechische Feldherr hat den Krieg gegen Troja zwar gewonnen, doch heimgekehrt mag er seinen Palast nicht über den kostbaren Purpurteppich betreten. Ihm ist nicht mehr nach Luxus. Er hat die Bilder der Toten im Kopf, die sein Sieg gekostet hat. Und so rollt Regisseur Simon Solberg in seiner Inszenierung der "Orestie" am Schauspielhaus dem traumatisierten Helden gar nicht erst den verhängnisvollen Ehrenteppich aus, sondern lässt die Darsteller seines Chores auf den Boden sinken. Über ihre Leiber muss Agamemnon die Stufen zu seinem Palast erklimmen. Über Leichen gehen. Bald wird auch er tot sein.

Ein starkes Bild in einer Inszenierung, die in nur zwei Stunden knapp erzählt, wie das Haus der Atriden in Gewalt versinkt: Um das Schicksal gnädig zu stimmen, hatte Feldherr Agamemnon unterwegs seine Tochter Iphigenie geopfert. Das kann ihm seine Frau Klytaimnestra nicht verzeihen, und so rächt sie ihr totes Kind. Das beschwört neuen Hass herauf. Klytaimnestras Sohn Orest tötet seine Mutter und deren Geliebten - und so könnte es ewig weitergehen. Doch dann führt die "Orestie" vor, wie nach demokratischer Entscheidung Recht gesprochen werden kann. Und wie das Urteil der Mehrheit den Einzelnen aus dem Zwang ewiger Blutrache erlöst.

Im Mythos sind es die Götter, die dem Menschen diesen neuen Weg weisen. Simon Solberg dagegen hat alle göttlichen Instanzen abgeschafft. Bei ihm gibt es nur den Menschen mit seinen Gefühlen, inneren Stimmen, sozialisierten Verhaltensweisen. So ist es in dieser Inszenierung am Ende Orests Schwester Elektra, die um ein Ende der Gewalt bittet und ein rasendes Volk für die Idee der Demokratie gewinnt.

Diesen kühnen Eingriff verkraftet das Stück erstaunlich gut. Solberg erzählt eine schlüssige Geschichte, wenn auch manche Bezüge seiner Inszenierung in die Gegenwart beliebig erscheinen. So lässt er die getötete Iphigenie als Mädchen mit geschorenen Haaren neben einem jüdischen Grabstein auf die Bühne kriechen. Ein Verweis auf deutsche Schuld, der sich nicht erschließt und so dahingestellt auch wenig sagt. An anderer Stelle bedient er sich plötzlich eines Trash-Elements: Orest tritt wie in einem billigen Fantasyfilm mit Krokodilkopf aus Styropor auf. Er ist der Drache, den die Mutter selbst gebar. Später wird er sich als Islamist entpuppen, als zorniger junger Mann mit Bart und schwarzem Gewand, der es für seine heilige Pflicht hält, die moralisch zweifelhafte Mutter zu töten.

So holt Solberg den 2500 Jahre alten Aischylos-Text assoziativ in die Gegenwart, findet nicht die eine Deutungslinie, setzt aber viele Impulse und verliert die Geschichte nicht aus dem Blick. Dazu hat er ein starkes Ensemble. Minna Wündrich etwa ist in einer Sekunde die Rachegattin Klytaimnestra mit antikem Haarkranz, die heiße Tränen um ihr totes Kind weint und den Hass auf ihren untreuen Ehemann mit kaltem Zorn zwischen den Zähnen hervorpresst. Im nächsten Moment ist sie die moderne Businessfrau, die von Schuld nichts wissen will, und ihren Liebhaber gleich zum Champagner in den Kühlschrank sperrt. Claudia Hübbecker gibt Kassandra ohne Orakelhokuspokus als aufgeklärte Seherin. Thomas Wittmann muss als Agamemnon anfangs zwar aussehen wie Herbert Knebel, gibt seiner Figur aber dennoch väterliche Würde. Und auch Lieke Hoppe, Stefan Gorski und Jonas Friedrich Leonhardi wechseln glaubhaft zwischen antikem Pathos und Anspielungen auf heutige Varianten ihrer Figuren. Dazu wird mit Klarheit gesprochen. Große Dynamik bringt der Chor ins Spiel. Die Darsteller sind noch Studenten an der Essener Folkwangschule, teils im Fach Gesang, und werden zu heimlichen Hauptdarstellern dieser Inszenierung. Sie sind nicht nur die chorisch kommentierenden Begleiter der Handlung, sondern spielen sich hervor, werden zu Charakteren, die im Kollektiv das ängstliche, zürnende, jammernde, auftrumpfende Volk verkörpern.

Aus dieser Gruppe tritt am Ende Kassandra noch einmal hervor. Solberg und sein Team haben dem Original des Aischylos ein eigenes Ende angehängt: Die Seherin beschwört eine demokratische Zukunft in Frieden und Gerechtigkeit, befreit von Angst. Und sie wendet sich direkt an das Publikum, macht jeden Einzelnen verantwortlich für die Gestaltung der Zukunft. So viel Optimismus ist selten im Theater, und der Appell rührt. Nur zeigt die "Orestie" ja gerade, wie der Mensch Opfer der Verhältnisse ist. Erst ein neues System - die Demokratie - kann das Individuum aus der Gewaltlogik befreien. Aufrecht also, an die Verantwortung jedes Einzelnen zu appellieren, schon die Griechen aber haben es besser gewusst.

Nach einer vor allem schauspielerisch intensiven Inszenierung zum Auftakt der Saison gab es im Central viel Applaus.

(dok)
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