"Terror" am Düsseldorfer Schauspielhaus Schuldig oder nicht schuldig — wie hätten Sie entschieden?

Düsseldorf · Darf ein Kampfpilot ein Passagierflugzeug abschießen, wenn er damit den Tod von 70.000 Menschen verhindert? Diese Frage erörtert Ferdinand von Schirach in seinem ersten Theaterstück "Terror" – und macht das Publikum zu Richtern. Wir fragen unsere Leser: Wie hätten Sie entschieden? Am Ende dieses Textes können Sie ihre Stimme abgeben.

Darf ein Kampfpilot ein Passagierflugzeug abschießen, wenn er damit den Tod von 70.000 Menschen verhindert? Diese Frage erörtert Ferdinand von Schirach in seinem ersten Theaterstück "Terror" — und macht das Publikum zu Richtern. Wir fragen unsere Leser: Wie hätten Sie entschieden? Am Ende dieses Textes können Sie ihre Stimme abgeben.

Irgendwann verliert der junge Kampfpilot vor Gericht die Fassung. Schweiß steht auf seiner Stirn; er faltet die Hände wie zum Gebet, springt aus dem Zeugenstand. Er hatte doch nur Sekunden, um eine schreckliche Entscheidung zu treffen: Schuss auslösen und die 164 Menschen an Bord einer Passagiermaschine in den Tod schicken. Oder nichts tun, die entführte Maschine fliegen lassen, und darauf warten, dass die Terroristen an Bord den Flieger in ein Stadion stürzen — in dem 70.000 Menschen Fußball schauen.

Der Pilot hat eine Gewissensentscheidung getroffen. Gegen den Befehl vom Boden hat er seine Waffen betätigt, Menschen getötet, um mehr Menschen zu retten. Er hat sich wissentlich schuldig gemacht. Und nun sitzt ihm diese überhebliche Staatsanwältin mit dem süßlichen Lächeln gegenüber und belehrt ihn kühl über Prinzipien. Darüber, dass man Menschenleben nicht gegeneinander aufwiegen darf. Niemals. Weil das gegen den ersten Satz des Grundgesetzes verstößt. Dagegen, dass die Würde des Menschen unantastbar ist. Die Grundlage unserer Verfassung.

In den Augen der Staatsanwältin hat sich der ehrgeizige Pilot zum Richter über Leben und Tod gemacht. Aus nachvollziehbaren Gründen zwar, doch für sie ändert das nichts an der Sache. Und weil Nicole Heesters eine großartige Schauspielerin ist, eine Grande Dame mit präzisen Gesten, strengem Blick, die personifizierte Chefanklägerin, ist der Zuschauer hin- und hergerissen: Moritz von Treuenfels als Pilot ist doch so sympathisch, ernsthaft, bescheiden und tief verzweifelt über die Folgen seiner Tat. Wie könnte man ihn verurteilen?

Ferdinand von Schirach ist ein geschickter Autor mit bestem Instinkt für packende Stoffe. Seine erste Karriere hat er als Strafverteidiger gemacht, er hat tagtäglich mit Schuld und Sühne zu tun gehabt und das dramatische Potenzial von Geschichten erkannt, die in ein Verbrechen münden. So ist er zum Erzähler geworden, zum Bestseller-Autor. Und nun spielen gleich 16 Bühnen in der Republik sein erstes Theaterstück. Dabei ist "Terror" eigentlich ein wenig originelles Stück, in dem ein bekanntes ethisches Dilemma brav von allen Seiten betrachtet wird. Ein bisschen Kant, ein bisschen Verfassungsrecht, Utilitarismus und Gesinnungsethik, das ist Seminarkost in Dialogform. Und Regisseur Kurt Josef Schildknecht inszeniert das am Düsseldorfer Schauspielhaus auch noch bieder im steifen Gerichtssaal-Ambiente. Alles grau in grau.

Doch — das Stück wirkt. Ungemein sogar! Und das hat zwei Gründe. Schirach bedient sich eines so einfachen wie cleveren Kniffs: Er macht die Zuschauer zu Richtern und kündigt das auch an. Nach der Verhandlung soll per Hammelsprung abgestimmt werden. Nach der Pause haben die Zuschauer die Wahl, durch das Törchen "schuldig" oder "nicht schuldig" zu ihren Plätzen zurückzukehren. Dabei werden sie gezählt. Damit ist das Publikum bei der Sache: Es soll ja entscheiden, ist gefragt, ist einmal tatsächlich Adressat des Abends.

Man kann das spüren: an der Konzentration in den Reihen und auch während der Pause im Foyer: Menschen vergessen, am Sekt zu nippen, weil sie darüber streiten, wie wichtig das Gewissen ist und wie mächtig die Verfassung. Da baut sich Spannung auf, und die Dynamik von Gruppen: Als die Pausenglocke läutet, bilden sich Mehrheiten an den Törchen, werden jene beäugt, die allein auf der anderen Seite nach oben gehen. Als sei das alles nicht nur Spiel.

Packend ist dieser Abend aber vor allem wegen der Schauspieler. Sie lassen die Enge des Gerichtssaals bald vergessen, formen aus sperrigen Rechtserörterungen leidenschaftliche Plädoyers und damit erst dramatische Texte. Nicole Heesters und Moritz von Treuenfels liefern sich hartnäckige Rededuelle, Viola Pobitschka ist eine ergreifende Angehörige, Andreas Grothgar gibt den gewieften Verteidiger und über allem thront souverän Wolfgang Reinbacher als warmherziger Vorsitzender des Gerichts. Sie alle sind verdammt, den Zuschauern zu gefallen. Das ist das Raffinierte an einem Stück, das ansonsten mit Klischees arbeitet, schließlich geht es um einen konstruierten Fall. Die Schauspieler aber müssen überzeugen, müssen das Publikum zu gnädigen Richtern machen, das ist Teil des Konstrukts. In Düsseldorf gelingt das jedem einzelnen, und so treffen die Widersprüche mit voller Wucht aufeinander, entfaltet der Abend seine Spannung.

Ferdinand von Schirach hat kein grandioses Stück geschrieben, aber ein wirkungsvolles. Eines, das die Zuschauer ernst nimmt. Man wird es ihm deutschlandweit danken.

Wie würden Sie entscheiden?

In Schirachs Stück steht der Pilot vor Gericht und muss sich für seine Gewissensentscheidung rechtfertigen. Durfte er sich zum Richter über Leben und Tod machen? Ist das Leben der 164 Passagiere in der Luft weniger wert als das der 70.000 im Stadion? Darf man Menschenleben gegeneinander aufwiegen? Und darf man Opferzahlen verrechnen? Darüber stimmt im Theater am Ende das Publikum ab. Was denken Sie? Hat der Pilot richtig gehandelt oder falsch? Ist er schuldig oder nicht schuldig? Beteiligen Sie sich an unserer Abstimmung, die Endergebnisse werden am Freitag auch in der Zeitung veröffentlicht.

(dok)
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