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Marion Ackermann im Interview "Wir leben im Zeitalter der Überforderung"

Düsseldorf · Die Direktorin der Kunstsammlung NRW richtet ihr Haus neu aus angesichts der Herausforderungen von Digitalisierung und Globalisierung.

 Beseelt von Kunst: Marion Ackermann, Leiterin der Kunstsammlung NRW vor Kunst von Katharina Fritsch.

Beseelt von Kunst: Marion Ackermann, Leiterin der Kunstsammlung NRW vor Kunst von Katharina Fritsch.

Foto: dpa

Sie werden im nächsten Jahr 50 — eine magische Zahl. Kann es sein, dass Sie auf dem Höhepunkt Ihrer Karriere angekommen sind?

Ackermann (lacht) Auf jeden Fall habe ich das Gefühl, sehr glücklich zu sein. Diese Mischung aus zunehmender Souveränität, Erfahrung und einer gewissen "Abgebrühtheit" erlebe ich als positiv. Und ich bin gerade dabei, über die Zukunft des Museums und der Kunst nachzudenken, mich und das Museum darauf auszurichten, neue Prozesse zu starten. Das ist wirklich aufregend.

Sind Sie in Düsseldorf angekommen?

Ackermann Ja, denn ich liebe die Kunstsammlung, das Museum hat die richtige Dimension, es ist keine "Maschine". Genau diese Mischung aus selber kuratieren zu können, selber kreativ sein zu dürfen, inhaltlich zu denken mit einem tollen Team, das groß, aber nicht anonym ist — das ist die perfekte Form.

Vorzeitig wurde nun Ihr Vertrag verlängert, bedeutet das die volle Rückendeckung durch Ministerpräsidentin und Ministerin?

Ackermann Ministerpräsidentin Kraft und Kulturministerin Schäfer schätzen meine Arbeit sehr, gerade die Verbindung von verstärkter Publikums-Ansprache und Ausstellungspolitik kommt an. Mit Kunst soll man Erkenntnisgewinn erreichen und daher stark publikumsorientiert arbeiten. Darin sind wir gleicher Meinung.

Frauen in Ihrem Amt sind eine Seltenheit — man hat es Ihnen am Anfang auch nicht leicht gemacht. Was waren die größten Widerstände?

Ackermann Ich hatte das Gefühl, bei Null anfangen zu müssen. Offenbar hatten hier nur wenige etwas davon mitbekommen, was ich vorher gemacht hatte. Von der Anerkennung, die ich in München und Stuttgart erhalten habe. Die nervendste, immer wiederkehrende Frage lautete: Füllen Sie auch die Fußstapfen Ihrer Vorgänger? Irgendwann habe ich pariert und gesagt: Vielleicht nicht. Dafür sind meine Absätze höher.

Sie haben anders als Ihr Vorgänger auf Bildung, Öffnung und Belebung des Hauses gesetzt. Hat man Sie darin bestärkt?

Ackermann Ja, denn dafür hatte man mich geholt. In Stuttgart hatte ich gezeigt, wie ein Museum, das stark isoliert war, wieder ins Herz der Stadt zurückgelangt, zu deren geistigem Zentrum geworden ist. Hier war die Ausgangssituation komplett anders, es stand ja nicht einmal Düsseldorf auf den Plakaten; seit Schmalenbach war die internationale Sammeltätigkeit herausgestellt worden. Die Exzellenz ist für das Profil der Kunstsammlung sehr wichtig, damit ist in gewisser Weise auch so etwas wie Elite und Distanz verbunden. Das wollte ich ja genauso bewahren, denn es macht die Kunstsammlung aus. Also musste mir das Zauberkunststück gelingen, einerseits diese Haltung weiter zu stärken, gleichzeitig das Internationale zu pflegen und trotzdem jene andere Linie zu verfolgen, nämlich die Menschen hier am Ort stärker anzusprechen.

Was erwartete Sie in Düsseldorf anderes als in Stuttgart?

Ackermann In Stuttgart dominiert ein klassisches Bildungsbürgertum. In Düsseldorf ist das Publikum dagegen heterogen und vielfältig. Ich habe noch nie einen Ort gefunden, an dem man mit so vielen verschiedenen Gruppierungen innerhalb des Publikums zu rechnen hat. Da gibt es einerseits die absoluten Spezialisten, die mit der intensiven rheinischen Kunstszene groß geworden sind. Dann gibt auch einige, die Kunst vor allem schick finden, ohne jeden intellektuellen Bezug dazu. Schließlich gibt es die Akademiker - unter ihnen Mediziner, Juristen - Menschen, die diese tiefe Sehnsucht nach Kunst haben. Es gibt in Düsseldorf auch ein explizit weibliches Publikum, vor allem aber gibt die vielen exzellenten Künstler, die einen besonders guten Blick auf Kunst haben; allerdings scheinen jüngere Künstler geradezu eine Schwellenangst vor dem Museum zu haben.

Sie haben anders als Ihre Vorgänger neue künstlerische Schwerpunkte gesetzt — vor allem auch Künstlerinnen gezeigt. Immer gab es Leute, die Sie mit Werner Schmalenbach verglichen und behaupteten, Sie würden die Pflege der Sammlung vernachlässigen. Was setzen Sie dem entgegen?

Ackermann Wenn ich auf die fünf Jahre zurückschaue, würde ich sagen, dass ich gerade im Bereich des Sammelns die wesentlichsten Akzente gesetzt habe. Im Bereich der Künstlerinnen habe ich Entscheidendes nachgeholt, wichtige Künstlerräume von Rosemarie Trockel, Annette Messager, Anna Opermann und anderen eingerichtet, auch Werke angekauft. Aber ich habe nicht nur die Künstlerinnen in unser Haus geholt, das wäre ein völlig falsches Bild. Ich habe mit Ad Reinhardt, Agnes Martin und Motherwell drei wichtige Gemälde im Bereich der amerikanischen Moderne erwerben können. Ein Schwerpunkt, den ich ausgebaut habe, sind die Künstlerräume: Heute haben wir alleine 26 teils von Künstlern selbst gestaltete Räume im K 21. Diese Künstlerräume bedeuten europaweit ein Alleinstellungsmerkmal. Und dann habe ich ganz neu die In-Situ-Installationen eingeführt. Es war mir ein starkes Anliegen, Reaktionen zwischen Architektur und Kunst möglich zu machen und dazu Kunstproduktionen anzuregen - zum Beispiel mit Monika Sosnowska, Tomas Saraceno und Olafur Eliasson oder mit den von van Lieshout und Pardo gestalteten Museums-Restaurants. Heute ist es auch wichtig, Produktion von Kunst zu ermöglichen in einem Haus für die Gegenwart, wie wir es zuletzt durch die Produktion des neuen Filmes von Wael Shaky gezeigt haben.

Wie wichtig ist der internationale Blick?

Ackermann Für die Kunstsammlung überlebenswichtig. Wir würden gar keine Leihgaben bekommen, wenn wir nicht in dem Zirkel der Global Player mitspielten. Da hilft man sich, man spricht sich ab - und redet aber beispielsweise auch über brisante politische Themen offen miteinander. Die Ausstellung "Kandinsky, Malewitsch und Mondrian" war nur möglich durch diese Kontakte. In diesem Kreis lernt man auch viel voneinander, spricht über die Zukunft von Museen und Gesellschaft. Natürlich sind die Zentren des westlichen Kulturgeschehens immer noch London, New York und Paris. Auch wir haben mit den Jahren unsere Rolle im internationalen Kontext gefunden. Die Museumsleiter weltweit verstehen sich wahnsinnig gut, daneben unterhalten wir sehr freundschaftliche Kontakte zu vielen mittelgroßen Museen in den europäischen Nachbarländern.

Was bringen diese Kontakte?

Ackermann Sie sind hilfreich, weil wir uns gerade in einem Zeitalter der Überforderung befinden. Die Globalisierung bedeutet eine permanente Überforderung. So glaubt man, dass man die Kunst der ganzen Welt wahrnehmen können soll. Man kann eigentlich nur produktiv scheitern an dieser unglaublichen Erwartung. Dazu kommt, dass man im Zeichen von Inklusion und Migration alle Menschen erreichen möchte. Gleichzeitig besteht gerade eine irreale Heilserwartung an die zeitgenössische Kunst - Kunst ist hipp. Jeder in der Gesellschaft möchte partizipieren an dem Hochgefühl, das damit verbunden ist, Teil der zeitgenössischen Szene zu sein.

Ist diese Entwicklung auch gefährlich?

Ackermann Eigentlich geht es der Kunst im Moment gut, insofern dass wir endlich wieder auf den Titelseiten der Zeitungen stehen. Kunst und Kultur spielen eine wichtige Rolle in der öffentlichen Wahrnehmung - wenn auch leider oft mit Skandalen verbunden. Bedauerlich ist außerdem, dass die totale Ökonomisierung den geschützten Bereich der Kunst bedroht.

Bei all dem muss man sich immer wieder fragen, hat es im Kern noch etwas mit Kunst zu tun, oder bleibt das alles an der Oberfläche?

Ackermann Das Phänomen Kunst ist im Grunde unberührt, der Umgang mit ihr führt aber oft zur Oberflächlichkeit.

Die derzeit gern verbreitete These stimmt also nicht, dass das Museum ein Auslaufmodell sei?

Ackermann Widerspruch! 115 Millionen Museumsbesucher in Deutschland sprechen für sich. Wir spüren in der Kunstsammlung eine intensivere Auseinandersetzung mit der Kunst, was sich natürlich nicht in Zahlen messen lässt. Zusätzlich zu den "physischen" Besuchern haben wir es immer mehr mit virtuellen Gästen zu tun. Der digitale Raum ist wie ein zusätzliches Museum. Das ist eine Wende voller Herausforderungen. Einige Häuser werden auf diesem Weg vielleicht nicht mitkommen, der eine Neuausrichtung der Museen weltweit fordert. Die Zukunft ist eng verbunden mit der Frage nach der künftigen Rolle des Originalwerkes und der immer perfekteren digitalen und globalen Verbreitung von "Kopien", von Abbildungen. Es ist notwendig, eine ethische Haltung einzunehmen gegenüber dieser neuen High-Tech-Kommunikation, die nicht ohne Abgründe ist. Die Welt wird intellektuell eingeebnet. Vielleicht eröffnen sich aber auch neue Formen des Sehens.

Das heißt?

Ackermann Museen müssen heute neue und weiter gefasste Aufgaben der Gesellschaft übernehmen. Um das bewältigen zu können, sind die intensiven Diskussionen mit Kollegen aus Ländern in fünf Kontinenten extrem wichtig. Das Schöne daran ist: Null Konkurrenz ist spürbar, stattdessen Zueinanderhalten und eine höchst kreative Atmosphäre in einer Art Think Tank.

Was ist wichtiger, Neues zu wagen oder Vertrautes zu zeigen?

Ackermann Es ist das Wichtigste für ein Museum, dass das Neue in die Welt getragen werden kann. In unserem Leitbild ist der Vorstoß zum Unbekannten verankert, der Vorstoß zum Neuen. Das gehört seit 2010 für uns zu den wichtigsten Zielen unserer Arbeit. Und heute ist es gültiger denn je.

Wie wichtig ist Ihnen die Akzeptanz Ihres Hauses und Ihrer Ausstellungen — sagen wir mal die Quote?

Ackermann Wir hatten in diesem Jahr 300 000 Besucher, wie unser Kaufmännischer Direktor, Hagen Lippe-Weißenfeld, gerade bekannt gegeben hat. Und alleine 80 000 Teilnehmer kamen wegen unseres Bildungsprogramms. Das heißt, die Zahlen stimmen. Und ich gebe zu: Ich wünsche mir zutiefst, dass wir alle Menschen erreichen und möchte doch gleichzeitig in meinem Programm keine Kompromisse machen.

Wovon träumen sie als Museumschefin?

Ackermann Ich würde am liebsten alle Menschen bei freiem Eintritt ins Museum einladen, denn die Kunst gehört allen.

(RP)
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