Düsseldorf "Meine lieben Kinder!"

Düsseldorf · Karl Wagener schrieb im März 1945 einen Brief aus der Frontstadt Düsseldorf. Seine Enkelin hat das Schreiben aufbewahrt. Es gibt einen Einblick in das Seelenleben der Menschen damals. Der Autor starb wenig später.

 Karl Wagener und seine Frau Amelia, Mitte der Zwanziger Jahre. Das Paar hatte einen Sohn: Karl (ganz rechts) mit Ehefrau und eine Tochter, Bertie (ganz links) mit Ehemann.

Karl Wagener und seine Frau Amelia, Mitte der Zwanziger Jahre. Das Paar hatte einen Sohn: Karl (ganz rechts) mit Ehefrau und eine Tochter, Bertie (ganz links) mit Ehemann.

Foto: Andreas Endermann

Karl Wagener war kein einfacher Mensch, schon gar nicht für seine nächsten Verwandten. Sein Sohn zum Beispiel: Die Beziehung war eher schlecht, seit der Vater nach dem ersten Weltkrieg die Familie wegen eines Abenteuers in den USA verlassen hatte und nur zurückgekommen war, weil er drüben nicht Fuß hatte fassen können. Es gibt Fotos von Wagener in Anzug und Weste, da ist er ganz Patriarch, sehr ernst blickt er mit buschigen Augenbrauen und Bart.

Im März 1945 schrieb dieser 69-jährige Mann einen Brief aus der Frontstadt Düsseldorf an seine Kinder und deren Ehepartner. Die Enkelin von Karl Wagener, Helga Betz, fand den Brief im Nachlass ihres Vaters und bewahrte ihn auf.

"Meine lieben Kinder! Wir stehen hier jetzt vor dem Ansturm der Amerikaner, denn seit ca. acht Tagen sind dieselben an der anderen Seite, wann werden sie kommen? Es kann jede Minute sein, es kann auch noch etwas dauern, aber sie werden kommen.

 Die Enkelin, Helga Betz, hat nicht nur den Brief, sondern auch das Stammbuch ihrer Familie väterlicherseits aufbewahrt.

Die Enkelin, Helga Betz, hat nicht nur den Brief, sondern auch das Stammbuch ihrer Familie väterlicherseits aufbewahrt.

Foto: Andreas Endermann

Ihr könnt euch unsere Aufregung und Spannung denken, in Erwartung der Dinge, die da kommen sollen. So will ich Euch denn doch noch mal schreiben, ist es meine letzte Nachricht? Oder geht alles gut? Wir wollen hoffen. Wir liegen schon unter Beschuss in ganz Düsseldorf und haben auch mehrere Tote. Vor acht Tagen war ich am Rhein zwischen Lohhausen und Kaiserswerth, da kamen vier Soldaten in einem kleinen Boot von Oberkassel dort an, die waren von ihrer Einheit abgeschnitten und das sie ihre letzte Patrone verschossen, geflüchtet. Dann kamen noch zwei Mann auf einem Balken über den Rhein geschwommen, ich hob die Burschen dann an Land. In Oberkassel ist auch der Landsturm schon eingesetzt, acht Mann von Lohhausen sind schon gefangen genommen, darunter unser Nachbar, der Herr Bauer.

Also der Ami kommt immer näher. Auf dem Rhein lagen Schiffe mit Kohlen, Waschpulver, Mehl und sonstigen Lebensmitteln, die wurden an alle unentgeltlich verteilt, es war ein wüstes Gedränge, wir haben nur Kohlen und Waschmittel mitbekommen, jetzt liegt alles im Rhein, kaputt geschossen oder gesprengt. Als wir dort waren, wurden wir mit Kanonen beschossen. Wir schlafen jetzt einige Zeit im Keller. Leitungswasser und elektrisches Licht ist bei uns eine Seltenheit. Ich bin über all dies nicht verwundert, denn ich habe es kommen sehen. Sobald ich Gelegenheit habe, schreibe ich wieder. Wann????????? So, nun herzliche Grüße sendet, Euer Vater."

Unser Rhein: Die Fotos unserer Leser
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Handschriftlich wandte sich Karl Wagener noch an seine Tochter, dort kommt er auch auf seinen Sohn zu sprechen, der ebenfalls Karl heißt und zu dieser Zeit als Soldat in russische Gefangenschaft geraten war.

"Liebe Bertie, von Karl habe ich nichts gehört, ich bin darüber in Sorge. Bei Frl. Hüsgen habe ich angerufen, aber sie ist nicht im Geschäft und hat auch keine Adresse hinterlassen. Am Mittwoch war ich in Lohhausen, da stand noch alles, nur zwei Häuser waren zerschossen und überall Straßensperren. Herzliche Grüße, Vater."

Helga Betz war zu diesem Zeitpunkt mit ihrer Mutter im Bergischen Land untergekommen. Bei einem Fliegerangriff wurde die Familie ausgebombt, sie kam auf einem Bauernhof unter. Sie hat noch ein Dokument im Nachlass ihres Vaters gefunden. Es ist das Familienstammbuch. Darin ist neben der Geburt der Kinder auch der Tod des Großvaters vermerkt. Er starb am 25. April 1945 im Krankenhaus an der Moorenstraße, der heutigen Uniklinik. Das genaue Datum weiß Frau Betz nicht, aber er wurde in den letzten Tagen, bevor die Amerikaner in Düsseldorf einmarschierten, von einem Splitter erwischt, bekam eine Blutvergiftung und starb daran. "Tod durch Feindeinwirkung" schrieb der Standesbeamte noch in der Urkunde, sein Stempel zeigt noch den von den Nazis modifizierten Reichsadler, der Siegerkranz allerdings ist leer. Das obligatorische Hakenkreuz darin hatte der Beamte offenbar bereits entfernt, obwohl Deutschland noch nicht kapituliert hatte und Hitler zu diesem Zeitpunkt im Bunker der Berliner Reichskanzlei sein Ende vorbereitete.

(RP)
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