Interview mit einem Obdachlosen "Flüchtlinge nehmen mir nichts weg"

Die so genannten Asylkritiker sagen häufig, der deutsche Staat solle sich erst mal um die Obdachlosen kümmern und dann um die Flüchtlinge. Der Düsseldorfer Torsten Schmidt (49) lebt seit 2003 auf der Straße. Was hält er von solchen Aussagen?

Torsten Schmidt verfolgt die Nachrichten zum Thema Flüchtlinge im Internet. "Wenn ich ein totes Kind am Strand liegen sehe, ist das schon sehr hart."

Torsten Schmidt verfolgt die Nachrichten zum Thema Flüchtlinge im Internet. "Wenn ich ein totes Kind am Strand liegen sehe, ist das schon sehr hart."

Foto: Endermann, Andreas

Nehmen Ihnen die Flüchtlinge etwas weg?

Torsten Schmidt Gar nicht. Was sollen die mir wegnehmen? Ich finde es auch vermessen zu sagen, dass die den Deutschen die Jobs wegnehmen. Das stimmt überhaupt nicht. Die nehmen keinen einzigen Job weg. In den ersten drei Monaten dürfen sie sowieso keinen Job annehmen und danach wird geprüft, ob auch ein Deutscher für den Job qualifiziert ist.

Was halten Sie dann davon, wenn die so genannten Asylkritiker sagen, der Staat müsse sich erst mal um die Obdachlosen kümmern und dann um die Flüchtlinge?

Die Obdachlosen haben genug Anlaufstellen. Wenn sie gewillt sind, Hilfe anzunehmen. Wenn das Geld in Großprojekten wie dem Berliner Flughafen verschwendet wird, sagt niemand was — aber wenn es um die Flüchtlingshilfe geht, ist das Geschrei groß. Und wenn die Flüchtlinge integriert sind, sind sie ja auch ein wirtschaftlicher Faktor. Das Geld läuft irgendwann wieder zurück. Auch das Taschengeld geht zurück in die Wirtschaft. In den Einzelhandel.

Sie haben also nicht das Gefühl, plötzlich weniger zu essen zu haben?

Gar nicht. Ich esse häufig in Tagesstätten, in denen es günstiges Mittagessen gibt, ansonsten finanziere ich mir mein Essen durch meinen Job als "Fifty-Fifty"-Verkäufer. Außerdem erledige ich Gartenarbeiten und gehe für ältere Herrschaften einkaufen.

Wie denken andere Obdachlose über Flüchtlinge?

Viele sind leider nicht meiner Meinung. Die lassen sich schon von dieser Nazi-Polemik anstecken. Das hat auch damit zu tun, dass viele von ihnen ein Suchtproblem haben und deshalb gar nicht in der Lage sind, darüber nachzudenken.

Tut der Staat genug für Flüchtlinge?

Er zeigt gute Ansätze. Es wird sich zeigen, ob das ausreicht. Wenn es mehr Geld braucht, dann sollte man das einsetzen. Das sind Menschen, die aus Krisengebieten kommen, in denen wirklich Armut herrscht. Menschen, die nicht wissen, wie sie am nächsten Tag an ihr Essen kommen sollen. Ich kann Menschen deshalb nicht dafür verurteilen, dass sie nach Deutschland kommen.

Tut der Staat genug für Obdachlose?

Ja. Obdachlose müssen die Möglichkeiten nur nutzen, und wer sie nicht nutzt, der will sie nicht nutzen.

Ich höre immer wieder: Die meisten Obdachlosen müssten nicht auf der Straße leben. Wie ist das bei Ihnen?

Man muss auch nicht. Es wäre falsch zu sagen, dass ich gerne auf der Straße lebe, aber ich möchte auch nicht unter Kontrolle leben. Dass mir Jobs angeboten werden, die ich für 1,60 Euro nicht machen möchte. Ich möchte aber auch dem Staat nicht auf der Tasche liegen und beziehe deshalb kein Hartz IV. Viele Obdachlose wollen auch nicht in den Arbeitsmarkt, weil sie in Ruhe ihrer Sucht nachgehen wollen.

Hätten Sie denn Anspruch auf Hartz IV?

Mit Sicherheit. Aber ich will mein Geld selbst verdienen. Das hat mit Stolz zu tun.

Wie sind Sie auf der Straße gelandet?

Ich war spielsüchtig und habe Automaten gespielt. Dadurch habe ich meine Miete nicht mehr bezahlen können, habe meinen Bürojob in einer Spedition verloren.

Aber Sie kommen klar?

Ich komme ganz gut klar. Nachts schlafe ich in einem öffentlichen Gebäude. Die freuen sich, dass ich Einbrecher durch meine Anwesenheit abhalte.

Hatten Sie selbst schon Kontakt zu Flüchtlingen?

Keinen direkten, ich sehe sie nur in der Stadt. Ich kann nicht sagen, dass mir einer von denen unsympathisch vorkam.

Wie verfolgen Sie die Nachrichten zum Thema Flüchtlinge?

Durch Nachrichtenseiten im Internet. Das Schicksal der Menschen berührt mich sehr. Wenn ich ein totes Kind am Strand liegen sehe, ist das schon sehr hart.

Hat Sie die Hilfsbereitschaft der Menschen an den Bahnhöfen in München und Dortmund beeindruckt?

Das war schon sehr toll. Die meisten Menschen sind in der Lage zu unterscheiden zwischen der Polemik der Rechten und dem, was die Menschen wirklich hierher treibt.

Und da waren Sie keinen Moment neidisch?

Nee. Es gibt auch gar nicht die Notwendigkeit, dass sich jemand so sehr um mich kümmert. Ich bin ja in der Lage, mich hier selbst zurechtzufinden. Die Flüchtlinge können die deutsche Sprache nicht, sie haben keine Anlaufstelle.

Könnten Sie sich selbst vorstellen, Flüchtlingen zu helfen?

Durchaus. Ich bitte die Leute, für die ich arbeite, Kleidung, die sie nicht mehr brauchen, an Flüchtlinge zu spenden.

Haben Sie auch Verständnis für die Leute aus dem Balkan, die nach Deutschland kommen?

Viele nennen die Wirtschaftsflüchtlinge. Ja, sie kommen aus wirtschaftlichen Gründen. Aber das war bei den Bewohnern der ehemaligen DDR auch der Fall. Die wollten auch besser dastehen. Deshalb kann ich niemanden verurteilen, der zu uns kommt.

Es ist jetzt im Gespräch, eine bestimmte Zahl an Menschen aus dem Balkan als Arbeitskräfte nach Deutschland zu holen.

Das finde ich nicht verkehrt. Es gibt hier viele Bereiche, die nicht gut bestückt sind. Handwerk, Pflege. Ein Deutscher will die Arbeit nicht machen. Der Pflegebereich wird auch schlecht bezahlt.

Würden Sie dort arbeiten?

Ja. Ich könnte aber auch in einem Gartenbetrieb arbeiten, wenn mir jemand eine Stelle anbieten würde.

Sie kennen sich damit aus, wenn man im Winter kein festes Dach über dem Kopf hat. Ab wann wird es für die Flüchtlinge in den Zelten bedenklich?

Das kann schon im Oktober losgehen, aber spätestens im November wird es kritisch. Es sind ja auch viele Kinder dabei. Das darf man auch nicht vergessen: Den Deutschen fehlt der Nachwuchs, aber den bringen die Flüchtlinge mit. Das kommt dem deutschen Staat irgendwann zu gute. Der Großteil von denen ist ja nicht kriminell. Es gibt auch deutsche Kriminelle, die man leider nicht abschieben kann. Klar, wenn die straffällig werden, dann muss man überlegen, ob sie bleiben dürfen. Aber es ist ja nur ein Bruchteil.

Es gibt ja Fälle, in denen sich Flüchtlinge in den Unterkünften geprügelt haben.

Das passiert, wenn man auf engem Raum ist und die Anspannung groß.

Haben Sie auch schon mal in einer Massenunterkunft geschlafen?

Für vier Wochen. Mit acht Leuten in einem Zimmer. Das war nicht meine Welt. Auch da gab es Spannungen. Auch da habe ich Schlägereien miterlebt.

(seda)
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