Kolumne Heimatreporter Ein Stadtteil fast wie ein Imperativ

Düsseldorf · Unterwegs in Reisholz zwischen Industrie-Unternehmen, Werkswohnungen und dem Eulenparadies Paulinenplatz

 Die Bessemer Straße ist auch ein Stück Architekturgeschichte. Einfache Arbeitersiedlungen im Grünen findet man hier.

Die Bessemer Straße ist auch ein Stück Architekturgeschichte. Einfache Arbeitersiedlungen im Grünen findet man hier.

Foto: Bretz, Andreas

Die Dame beugte sich zu mir hin und sagte: "Versuchen Sie's mal." Dann flüsterte sie eine vierstellige Zahl. Ich probierte und probierte, denn ich hatte wirklich Lust, zu sehen, was sie mir zeigen wollte, aber es ging beim besten Willen nicht. Ich gab auf. Erneut versuchte es die Dame, erst mit Kraft, dann mit Zartheit und gutem Zureden, aber vergeblich. Sie atmete durch, guckte mich aus ihren großen geschminkten Augen an und hauchte: "Es tut mir so leid."

Düsseldorf-Reisholz ist auf den ersten Blick kein Ort, der seine Besucher mit ansprechenden Reizen überfordert. Allein schon dieser Name: Reisholz. Wie ein Imperativ, dass man Holz reißen soll. Oder Reis holen? Seltsam. Dennoch ist es mindestens ebenso seltsam, dass hier keine Touristenbusse hindurchfahren, zumindest ab und zu mal einer, denn Reisholz ist ein Erlebnis, zuallererst ein akustisches.

Wer vormittags an der, sagen wir, Bessemer Straße, im Herzen des Stadtteils, stehen bleibt und die Augen schließt, der hört abenteuerliche Geräusche. Mal ein lang gezogenes Quietschen. Mal ein dumpfes Tröten. Mal ein heller Knall. Was an das Treiben urtümlicher Riesenviecher in einem Dschungel erinnert, ist in Wahrheit nur das alltäglich aufgeführte atonale Konzert der Reisholzer Industrie, allen voran des Henkel-Werks, das so weitläufig und auf so viele Bauten verteilt ist, dass du dich im Nu verlieren kannst zwischen all den "Beauty Care"-Werbungen und grünen Maschendrahtzäunen und signalfarbenen Aufforderungen, Gehörschutz zu tragen. Wahrscheinlich ist das der heimliche Trick der Stadtteilpolitiker - maximiere den Anteil von Industrie und Gewerbe, dann fühlen sich die Touristen so abgeschreckt, dass die Einheimischen in Ruhe ihr kleines Paradies gestalten können.

Ja, Paradies. Wer Zweifel hat, dass sich die Worte Reisholz und Paradies in ein und demselben Satz sinnvoll aufeinander beziehen können, der spreche mit Rita Keurentjes. Bessemer Straße, geboren in diesem Stadtteil in den fünfziger Jahren, nie weggezogen und seit geraumer Zeit Eigentümerin eines hübschen alten Hauses, das sie mit ihrer Familie bewohnt und zu dem ein großer, nach hinten rausgehender Garten gehört. Nachdem wir vor dem 1912 erbauten Gebäude ins Gespräch gekommen waren, nahm sie mich plötzlich am Arm - "ich kenne Sie zwar nicht, aber egal!" -, um mir ihren Garten mit der uralten Eiche zu zeigen.

Das vermute man nämlich nicht, dass es in diesem Stadtteil, der unter anderem für seine Siedlungen mit Werkswohnungen bekannt ist, für den Suppenhersteller Zamek (wiederauferstanden von der Insolvenz) oder auch schäbige Winkel mit verwahrlost aussehenden Läden (gegenüber von Zamek), derart idyllische Gärten gebe, sagte sie. Allein, das hohe Gartentor war mit einem robusten Zahlenschloss gesichert. Und die vier Rädchen waren irgendwie eingerostet, jedenfalls ließen sie sich kaum einen Millimeter bewegen, von ihr nicht, von mir nicht. Was aber gar nicht schlimm war, denn wozu braucht man Anschauung, die die Fantasie ja letztlich tötet, wenn man dafür grenzenlose Schwärmerei bekommen kann?

"Reisholz, Hassels oder Benrath - ich wollte nie woanders leben", sagte Rita Keurentjes. "So geht's vielen hier. Und Zamek stinkt ja auch nicht mehr so wie früher." Sie lachte. Eigentlich war sie damit beschäftigt, das Herbstlaub vom Gehsteig zu fegen. Angesprochen auf die Vorzüge von Reisholz, sprudelte es jedoch nur so aus ihr heraus: "Wussten Sie, dass Reisholz ein Vogelparadies ist? Der Paulinenplatz - ein Eulenparadies. Wir haben hier Amseln, Drosseln, Meisen, Halsbandsittiche. Abends können Sie das Brummen der Schiffe auf dem Rhein hören. Sie müssen mal im Sommer herkommen, da hören Sie aus jedem Haus ein Klopfen, Hämmern und Sägen. Alle hier lieben ihre Häuser. Ich erinnere mich, wie ich mit meiner Oma durch die Straßen spaziert bin. Was soll ich sagen? Reisholz ist Heimat! Ein Ort für Kenner. Und für Menschen, die hier geboren wurden." Ich sagte: "So, wie Sie von dem Stadtteil schwärmen, könnten Sie Bezirksbürgermeisterin werden, oder?" Sie, mit einem Lachen: "Ja, natürlich!"

Es staune niemand über diese augenöffnende Liebeserklärung an Reisholz. Denn es kommt ja im Leben nicht darauf an, wie etwas aussieht, sondern welche Gefühle man damit verbindet. Ohrenöffnend war die Liebeserklärung außerdem. Denn dass die industriellen Untertöne ergänzt werden von den Obertönen der örtlichen Fauna, dass hier Industrie und Natur im Zweiklang miteinander stehen, das hört man nicht im Vorbeigehen, dafür muss man sensibilisiert sein. Ein guter Ort für die Sensibilisierung ist übrigens das Wäldchen zwischen Paul-Thomas- und Nürnberger Straße, eine Minute zu Fuß von der Bessemer Straße entfernt. Ich lief über kurvig-matschige Trampelpfade in ein Dickicht wild wachsender Bäume hinein und wollte gerade, wie der letzte Trapper von Reisholz, meinen Rucksack abnehmen, Lagerfeuer entzünden, Stockbrot hineinhalten und den Hut in den Nacken schieben, da schepperte es von irgendwoher gewaltig, während es aus einer anderen Richtung klang, als öffne sich ein Riesentor, das 100 Jahre lang niemand geölt hatte.

Und über allem das Geschrei von Halsbandsittichen.Schade, dass ich kein Musiker bin und diese Momente nicht in eine Partitur überführen kann. Denn der Sound von Reisholz ist echt der Wahnsinn.

(RP)
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