Düsseldorf Rückzug eines Musterschülers

Düsseldorf · Nihat Öztürk tritt als Chef der hiesigen IG Metall ab. Geprägt hat ihn die Zeit in einer Gießerei in Mittelfranken in den 70er Jahren.

 Nihat Öztürk wie viele ihn kennen: der Chef der IG Metall bei einem Warnstreik im vergangenen Jahr in Neuss.

Nihat Öztürk wie viele ihn kennen: der Chef der IG Metall bei einem Warnstreik im vergangenen Jahr in Neuss.

Foto: Andreas Woitschützke

Alle reden von Integration. Aber wie das wirklich gehen soll, darüber streiten die Gelehrten. Dabei gibt es durchaus Beispiele dafür, die einem aber nicht sofort ins Auge springen. Nihat Öztürk ist so ein Beispiel. Seit Jahrzehnten ist er der starke Chef der IG Metall in Düsseldorf und Neuss. Im Januar 2018 tritt er die aktive Phase der Altersteilzeit an, sein Amt als erster Geschäftsführer der Industriegewerkschaft überlässt er seinem Nachfolger.

Er ist nicht nur ein Verfechter der Rechte von Beschäftigten in der Metallwirtschaft. Er ist auch ein Beispiel für den sozialen Aufstieg eines Einwandererkindes. Geboren wurde er 1955 im türkischen Antakya. "Wer bibelfest ist, der kennt es als Antiochia", sagt Öztürk, der überhaupt nicht religiös ist, obwohl er aus alevitischem Elternhaus stammt und mehr als zehn Jahre in Düsseldorf den Arbeitskreis Kirche und Gewerkschaft geleitet hat. Sieben Geschwister hat er. Sein Vater geht 1966 nach Deutschland, um dort als Gießereihilfsarbeiter zu arbeiten und die Familie zu ernähren. Nihat folgt ihm 1972, kehrt wieder zurück, und schafft es in einem zweiten Versuch 1973 doch noch in die Bundesrepublik, wenige Monate vor dem Anwerbestopp für Gastarbeiter. Auch er wird Gießereihilfsarbeiter, in Mittelfranken, schwenkt nach elf Monaten um auf angelernter Elektroschweißer im Akkord. Es ist ein echter Knochenjob, den er da annimmt.

Ganz nebenbei lernt er Deutsch und wird Mitglied der IG Metall, im April 1974. Er wird Vertrauensmann in einem Milieu von Gastarbeitern aus vielen Nationen. Vorarbeiter und Chefs sind nur Deutsche. Als extrem autoritär beschreibt Öztürk den Ton in der Fabrik rückblickend. Denn er sollte ihn prägen. Er wird zum Wortführer der kleinen Arbeiter, eckt immer wieder an. Anfangs sei er wegen seiner jugendlichen Erscheinung nicht ernst genommen worden. Doch das ändert sich schnell, zum Ärger seiner Chefs, zum Wohlgefallen seiner Kollegen und den Genossen in der IG Metall. Irgendwann sagen die zum jungen Nihat: "Du bleibst nicht in der Fabrik, du musst studieren." Doch Öztürk hat weder höhere Abschlüsse noch Abitur. "Mein Vater hat Lesen und Schreiben sogar erst bei der Armee gelernt. Und wer sollte das finanzieren bei einem Haupternährer im Hilfsarbeiterjob und sieben Geschwistern", sagt Öztürk heute. Es ging. Die Gewerkschaftsfreunde organisieren ihm ein Stipendium der Hans-Böckler-Stiftung.

Zwei Tage Aufnahmeprüfung an der Hochschule für Wirtschaft und Politik in Hamburg und der junge türkische Gastarbeiter ist Student in Deutschland. Er darf das Studium zum Diplom-Sozialwirt antreten, später setzt er Ökonomie obendrauf. Das Studium sei ihm nie leicht gefallen, er habe viel mehr lernen müssen als seine Kommilitonen. "Aber was mir zupasskam, war ein Mehr an Lebenserfahrung in anderen Milieus", sagt Öztürk heute in Benrather Wohnzimmer, vor einer Bücherwand mit den großen deutschen Philosophen. Durch Lesen sei sein Aufstieg gelungen, sagt der Gewerkschafter.

Nach dem Studium weiß auch Öztürk: "Ich will nie wieder in die Gießerei." Er wird wissenschaftlicher Mitarbeiter im Gewerkschaftsumfeld, erst zweieinhalb Jahre in Hamburg, dann rund vier Jahre in Dortmund. Danach geht er schließlich festentschlossen zur IG Metall. Erst 1989 in Fachfunktionen, später als Geschäftsführer für Düsseldorf, später auch Neuss. Und er kämpft weiter wie für andere. 30 Schließungen von Industriebetrieben verhandelt Öztürk als Gewerkschaftssekretär. Holt viel raus für seine Kollegen. Im Gedächtnis bleibt dennoch das Negative. "Die Schließung der Mannesmann Demag Hüttentechnik war nicht nötig und nicht nachvollziehbar", sagt Öztürk Jahre später. Und auch das Aus für ThyssenKrupp Nirosta, einst Vorzeigemarke im Ruhrgebietskonzern am Standort Benrath, habe ihn mitgenommen. Jedes Mal ging es um rund 1000 Arbeitsplätze. Die Schließungen haben ihn aber nicht gedemütigt. Er ist nicht nur ein Kämpfer der Kollegen, sondern auch der Düsseldorfer Industrie geworden. "In den 90er Jahren hörte ich lauter Sätze, dass Industrie Old Economy sei", sagt Öztürk. Die Krise 2008/2009 belehrte die Ökonomen eines Besseren. "Deutschland kam deshalb am besten durch die Finanzkrise, weil seine wirtschaftlichen Säulen Maschinenbau, Automobil, Elektroindustrie und Chemie heißen", sagt Öztürk.

Nun zieht sich der Musterschüler langsam zurück. Seine Tätigkeit bei der IG Metall Düsseldorf-Neuss geht zu Ende. Was kommt nun? Dass Öztürk nun nicht sein Handycap im Golfsport verbessern will, ist für alle, die ihn wirklich kennen, keine echte Nachricht.

Die Frage lässt es aus ihm Heraussprudeln: Mitarbeit im Ressort Migration und Teilhabe beim Vorstand der IG Metall und bürgerschaftliches Engagement unter anderem für Düsseldorfer Appell, Mosaik e.V., Kumpelverein und SPD. Warum so viel Engagement für ein Land, dessen Bürger der Türke bis heute nicht ist? "Wenn Nationalismus, Rassismus und religiöser Fundamentalismus unsere freiheitliche Demokratie und den Frieden bedrohen, ist es ein Auftrag des Grundgesetzes, die Würde des Menschen jeden Tag zu verteidigen", sagt Öztürk.

Heute trifft er alte und künftige Weggefährten. Im Gewerkschaftshaus an der Friedrich Ebert Straße. Dort ehren sie ihn. Wo sonst!

(tb)
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