Serie "Befreiung Düsseldorfs" Scheinbare Idylle: Die Landverschickung der Düsseldorfer Kinder

Düsseldorf · Tausende Düsseldorfer Kinder waren in den Tagen des Krieges außerhalb des Rheinlandes untergebracht. Die Eltern entließen sie in die Fremde, weil sie dachten, so wäre es am sichersten für sie. Schutz vor den Bomben oder in den Fängen des Staates? Einige Fakten zur Kinderlandverschickung im Zweiten Weltkrieg.

"Alle diejenigen Eltern, die ihre Kinder im luftgefährdeten Düsseldorf zurückhalten, nehmen eine schwere Gewissensbelastung auf sich, wenn sie ihre Kinder den Gefahren des Luftkrieges unnötig aussetzen, obwohl die Kinder - wie viele ihrer Klassenkameraden - gerne ins KLV-Lager wollen." So tönte im November 1944 der Düsseldorfer Oberbürgermeister Carl Haidn, der schon 1931 in die NSDAP eingetreten war. Mit KLV meinte er die Kinderlandverschickung, genauer gesagt die "Erweiterte Kinderlandverschickung", denn im Oktober 1940 hatte Adolf Hitler beschlossen, Kinder nicht nur zur Erholung, sondern auch zum Schutz vor Bombenangriffen aus den gefährdeten Städten in ländliche Regionen zu bringen und dort unterrichten zu lassen.

Die KLV stand also in einem reichsweiten Kontext, und die Organisation der Düsseldorfer KLV unterschied sich nicht von derjenigen anderer gefährdeter Städte. Im Prinzip konnte jedes Schulkind ab dem sechsten Lebensjahr daran teilnehmen. Kinder bis zum zehnten Lebensjahr wurden in Pflegefamilien untergebracht, alle älteren bezogen Lagerunterkünfte, zum Beispiel in Schulen, Hotels und Pensionen. Die KLV wurde von der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) beziehungsweise der Hitlerjugend (HJ) organisiert. Auf die Eltern kamen keine Kosten zu, und die Teilnahme war de jure freiwillig. Aber der Staat übte erheblichen Druck auf jene Eltern aus, die ihre Kleinen lieber in der Familie behalten wollten, als sie über Monate fern von Zuhause zu wissen.

Welche Ziele verfolgte der Staat mit dieser Aktion? Selbstlosigkeit liegt nicht in der Natur von Diktaturen. In der KLV eine reine Fürsorgemaßnahme ohne Hintergedanken zu vermuten, hieße die nationalsozialistischen Machthaber massiv zu unterschätzen. Der NS-Logik folgend waren jüdische Kinder von der KLV ausgeschlossen. Und schon in "Mein Kampf" hatte Adolf Hitler klar gemacht, dass er den Zugriff der Eltern hinsichtlich der Erziehung einschränken wollte und zweifelsfrei darauf abzielte, die jüngsten Mitglieder der Gesellschaft in seinem Sinne zu indoktrinieren, damit "der junge Mensch beim Verlassen der Schule nicht ein halber Pazifist, Demokrat oder sonstwas ist, sondern ein ganzer Deutscher". Vordergründig konnten durch die KLV natürlich Leib und Leben der Kinder geschützt werden, doch andererseits hatte der Staat nun auch über Wochen und Monate, in einigen Fällen sogar über Jahre einen exklusiven Zugriff auf den Nachwuchs. In Anweisungen an das Lehrpersonal, das die jeweiligen Lager führte, heißt es: "Grundsatz unserer Lagerführung [...] ist die Erziehung des Pimpfes und des Jungmädels zur nationalsozialistischen Volksgemeinschaft." In diesem Zusammenhang eröffne sich die "bislang einmalige Möglichkeit, nicht nur in kurzen Dienst- oder Schulstunden auf dieses Ziel hinzuwirken." Mit der Aufnahme in ein KLV-Lager wurden die Kinder zudem automatisch Mitglieder der HJ.

Die Entlastung der Eltern war ebenfalls kein Selbstzweck, vielmehr konnten diese jetzt unter anderem kriegswichtigen Berufen nachgehen.

Dass Haidns oben zitierter Aufruf notwendig war, zeigt die mäßige Akzeptanz der KLV bei den Eltern. Abgesehen von der Trennung fürchteten viele eine schlechte oder doch zumindest schwer kontrollierbare Versorgung ihrer Kinder.

Für jede Stadt beziehungsweise Region gab es sogenannte "Aufnahmegaue". Für Düsseldorf waren dies Sachsen, Thüringen, Bayerisch-Schwaben und das Sudetenland. Das heißt nicht, dass Düsseldorfer Schülerinnen und Schüler nicht auch in anderen Gegenden untergebracht wurden, aber hier fanden sie sich in erster Linie wieder. Lager mit Düsseldorfer Kindern konnten u.a. auch in der Slowakei und in Dänemark, in Pommern, Österreich und Mainfranken nachgewiesen werden.

Bedenkt man diese räumlichen Distanzen und die damaligen Verkehrsmittel, zumal in Kriegszeiten, so wird verständlich, dass Heimweh und Verlustängste die Kinder belasteten und schon deshalb die Eltern nicht immer leicht dazu zu bewegen waren, ihre Kinder herzugeben. Zahlreiche Briefe belegen die Furcht der Kinder um die Eltern, wenn wieder einmal Bombenangriffe auf Düsseldorf vermeldet wurden.

Der Alltag in der KLV unterschied sich vormittags nur wenig vom heimischen Schulalltag, je nach Linientreue der Lehrer konnte ein militärisch orientierter Morgenappell stattfinden. Dem Lehrer zur Seite stand ein Lagermannschaftsführer aus der HJ, der vor allem die Nachmittags- und Wochenendbetreuung organisierte.

Diese beiden Personen bestimmten das Klima in der KLV maßgeblich. Waren sie überzeugte Nationalsozialisten, so konnten sie indoktrinieren, ohne Widerstände befürchten zu müssen. Ausgehende Briefe wurden in den meisten Fällen zensiert, physische Gewalt gegenüber den Kindern ist ebenfalls überliefert - fern der Eltern müssen sich Körperstrafen noch schlimmer angefühlt haben. Dramatisch wurde es in vielen KLV-Lagern gegen Kriegsende, denn sowohl die Lehrer als auch die Kinder waren mit den Gefahren der sich nähernden Front völlig überfordert, die Rückreise gestaltete sich häufig chaotisch. Und auch in den vermeintlich sicheren Aufnahmegebieten konnten sich die Kinder nicht sicher fühlen: Am 8. April 1945 kamen bei einem Luftangriff auf die thüringische Stadt Schleiz 21 Düsseldorfer Schüler ums Leben.

Ein Abbruch der KLV-Teilnahme war de jure möglich, wurde allerdings von den Organisatoren ungern gesehen, denn zum einen konnte er ein schlechtes Licht auf das jeweilige Lager werfen, zum anderen war er geeignet (je nach Anzahl der Rückkehrwilligen) die Existenz eines Lagers aufs Spiel setzen.

Reisten Kinder ohne Erlaubnis und auf eigene Faust zurück, blieb dem Staat zumindest eine Möglichkeit der Sanktion: Die Essensmarken für diese Kinder verblieben bei der KLV und die Eltern mussten die heimische Zuteilung umständlich beantragen. Rückblickend war die Zeit in der KLV für viele Kinder sicherlich auch ein Abenteuer, schließlich bot sie ihnen erstmalig die Gelegenheit, fernab von Zuhause Lebenserfahrungen zu sammeln, ja überhaupt eine Fernreise zu unternehmen. Viele Kinder genossen den Zusammenhalt, es entwickelten sich Freundschaften, die noch Jahrzehnte hielten.

Aber sie wurde von vielen Eltern zu Recht kritisch gesehen. Wie viele Düsseldorfer Kinder in die KLV geschickt wurden, ist unklar. Für das gesamte Deutsche Reich geht man mittlerweile von nur 850 000 Kindern aus. Analog zu anderen Großstädten dürften weniger als 20 Prozent der KLV-fähigen Düsseldorfer Kinder verschickt worden sein.

Der Autor Benedikt Mauer ist Leiter des Stadtarchivs. Am 14. April erscheint ein von Bastian Fleermann, Leiter der Mahn- und Gedenkstätte, und Mauer herausgegebener Sammelband über "Kriegskindheiten in Düsseldorf". Darin befindet sich ein längerer Beitrag von Mauer über die Düsseldorfer KLV.

(RP)
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