Düsseldorf Schläpfers Tänzer streben zum Licht

Düsseldorf · Der Ballettchef der Rheinoper zeigt in der neuen Produktion zwei eigene Arbeiten sowie eine von Jerome Robbins.

 Szene aus Martin Schläpfers Choreografie "Ein Wald, ein See" (mit Julie Thirault, Andriy Boyetskyy).

Szene aus Martin Schläpfers Choreografie "Ein Wald, ein See" (mit Julie Thirault, Andriy Boyetskyy).

Foto: Gert Weigelt

Aus dem Dunkel der Bühne schlüpfen zwei Tänzer. Sie berühren und umschlingen einander, rollen in wilden Schwüngen über den Boden. Die Musik setzt bei Martin Schläpfers Uraufführung "Verwundert seyn - zu sehn" erst Minuten später ein. Der Pianist Denis Proshayev hat den Orchestergraben mit seinem Flügel ganz für sich. Zart schlägt er die Sonate Nr. 6 von Alexander Skrjabin an. Später untermalen Franz Liszts Klänge von "Le bal de Berne" und Skrjabins Sonate Nr. 10 eine faszinierende Choreografie voller verrätselter Bilder. Von allen Seiten springen Tänzer herbei, bewegen sich ruckelig wie Marionetten, formen sich zu Wellen, heben die Köpfe und schauen ins Licht. Ganz hinten schwimmt hoch oben ein riesiger Mond und beginnt im nachtschwarzen All zu kreiseln.

Im Januar hatte der dreiteilige Ballettabend "b.22" Premiere in Duisburg. Jetzt wechselte er für fünf Aufführungen ins Düsseldorfer Opernhaus. Keines der Stücke macht es den Zuschauern leicht. Den Titel seiner Uraufführung "Verwundert seyn - zu sehn" entlehnte Martin Schläpfer einer Schriftensammlung von Arthur Schopenhauer.

15 grandiose Tänzer zeichnen Stationen aus dem Leben eines Menschen nach, tauchen in komplizierten Spiralen in seine Gedankenwelt ein und verfangen sich in einem Labyrinth von Sinneswahrnehmungen. Eine Deutung der mosaikartigen Szenen scheint kaum möglich, ist vielleicht auch gar nicht erwünscht oder erforderlich. Sich einlassen, sich hingeben - das sollte genügen für dieses außergewöhnliche Ballett-Erlebnis.

Weit mehr noch wagt das zweite Stück. "Moves, A Ballett in Silecnce" von Jerome Robbins entstand bereits 1959. Es verzichtet gänzlich auf Musik und stellt damit unsere gewohnten Erwartungen auf den Kopf. Die Überraschung: Mit ihrer bestechenden Körperbeherrschung machen die Tänzer die fehlende Komponente nicht nur wett - sie lassen sie vergessen. Wie ist es möglich, dass sie sich ohne den Halt der Musik in einem derart präzisen Gleichklang bewegen?

Das Publikum verfolgte diese hohe Kunst mit gebannter Konzentration. Und doch vernahm man in der Pause auch den Wunsch nach etwas mehr Opulenz von Bühne und Musik im dritten Teil. Er wird bei "Ein Wald, ein See" zu Beginn auch erfüllt. Martin Schläpfer schuf seine Choreographie 2006 für das Staatstheater Mainz. Ein Konstrukt aus stählernen Stangen senkt sich über die darunter kauernden Tänzer. Die senkrechten symbolisieren den Wald, die vertikalen den See. In der ruhigen, kraftvollen oder auch wilden Natur sieht Schläpfer Assoziationsträger für den Tanz.

Die Musik komponierte und intonierte auch in Düsseldorf Paul Pavey. Virtuos huscht der großartige Musiker bei seiner Live-Performance im Graben zwischen drei Stationen hin und her. Er benutzt Schlag- und Blasinstrumente, greift zur Mandoline und entlockt ihr hinreißende Töne. Er eilt zum Pult und stößt vor seinen Notenblättern fremdartige Laute aus. Sein Murmeln und Zirpen weben mit dem Sirren des Windes einen experimentellen Klangteppich.

Das Publikum im Düsseldorfer Opernhaus wird bei "b.22" mehr als sonst herausgefordert. Die Belohnung ist ein packender, hochintensiver Abend. Die überragende Kunst der Tänzer wirkt lange nach. Großer Beifall.

(RP)
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