Schützen feiern Jubiläum Der Düsseldorfer St.-Sebastianer-Mythos

Düsseldorf · Der Historiker Ulrich Brzosa zeigt in seinem Gastbeitrag die Einbrüche, Abstürze und Wiederauferstehungen in der Schützen-Historie auf.

 Die aktuelle Chronik des großen Düsseldorfer Schützenvereins zum 700-Jährigen.

Die aktuelle Chronik des großen Düsseldorfer Schützenvereins zum 700-Jährigen.

Foto: Redaktion

Nichts ist für einen Historiker schwieriger, als einmal falsch in Umlauf gebrachte Geschichtsschreibung richtigzustellen - jedenfalls in Düsseldorf. Hartnäckig halten sich hier Mythen wie: In der Schlacht von Worringen kämpften Düsseldorfer (die es noch gar nicht gab) gegen Kölner, Bilk ist älter als Düsseldorf (weil eine unlokalisierbare Villa Bilici einfach mit Bilk gleichgesetzt wird) oder der Turm von St. Lambertus steht schief (in Wirklichkeit ist er gedreht und nur ein bisschen schief).

Über die Gründe für so viel Beharrlichkeit kann man nur spekulieren. Liegt es daran, dass die Landeshauptstadt zwar eine lange Geschichte, aber eben keine ganz so lange wie manche Nachbarstadt hat? Als 1288 das geschichtslose Dorf am Unterlauf der Düssel zur Stadt Düsseldorf am Rhein erhoben wurde, da blickten Köln oder Neuss schon auf eine über 1000-jährige Geschichte zurück. Da kann es schon wehtun und am Selbstbewusstsein kratzen, wenn man liebgewonnene Legenden gerade aus der Frühgeschichte der Stadt, die nur wenig wirklich spannende Dönekes bereithält, zu Grabe tragen muss.

Jüngstes Beispiel ist der Große Schützenverein. Mit der Behauptung, nach einem alten Bruderschaftsbuch sei der Verein 1316 gegründet worden, fassten die Mitglieder 1954 aus heiterem Himmel den Beschluss, den "St. Sebastianus Schützenverein Düsseldorf 1435" in "St. Sebastianus Schützenverein Düsseldorf 1316" umzubenennen. Lapidar heißt es am Ende des Sitzungsprotokolls, dass die Urkunde über das Gründungsjahr, die kein Mensch jemals zu Gesicht bekam, später vorgelegt werden soll. Bei der Absichtserklärung ist es bis heute geblieben. Noch heute scheint der Verein, obwohl die Zurückdatierung schon vor etlichen Jahren als freie Erfindung widerlegt wurde, auf die Vorlage des Buches zu warten, denn nur so ist zu erklären, warum die Schützen jüngst eine "Chronik zum 700-jährigen Bestehen" ihres Vereins herausgegeben haben, die von einer Ausstellung im Stadtmuseum "anlässlich des 700. Geburtstages des St. Sebastianus Schützenvereins" begleitet wird.

Düsseldorf: Impressionen vom Schützenumzug 2015 der Sebastianer
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Impressionen vom Schützenumzug 2015 der Sebastianer in Düsseldorf

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Während der Große Verein noch um den Namen "St. Sebastianus Schützenverein Düsseldorf 1316 oder 1435 e.V." ringt, müsste die von Schützenchef Lothar Inden mittlerweile angekündigte offene Diskussion eigentlich beim "St. Sebastianus Schützenverein Düsseldorf 1845 oder 1946 e.V." ansetzen. Wie alle mittelalterlichen Bruderschaften war auch die an der Lambertuskirche beheimatete Düsseldorfer Sebastianus-Bruderschaft eine kirchliche Vereinigung, die ursprünglich drei Ziele verfolgte: Das fromme Gebet in der Kirche, die Absicherung gegen die Nöte des Lebens und soziale Vernetzung durch gesellschaftliche Unterhaltung. Bekannt ist, dass die Sebastianus-Bruderschaft nach der Reformation ihre ehemalige Vorrangstellung sowohl im kirchlichen als auch im gesellschaftlichen Leben der Stadt in rasantem Tempo verlor. Ende des 18. Jahrhunderts war der absolute Tiefpunkt erreicht.

Die Bruderschaft bestand nur noch auf dem Papier. Das gemeinsame Gebet und der gegenseitige Beistand wurden schon lange nicht mehr gepflegt. Nur das jährliche Vogelschießen fand noch statt. Ob es im Namen der Sebastianer ausgerichtet wurde oder sich bereits als eigenständige Unterhaltungsveranstaltung von findigen Wirten verselbstständigt hatte, bleibt dunkel. Klar ist dagegen, dass die Institution, die die Bruderschaft einst ins Leben rief, lautstark gegen die nun unter dem Namen "vereinigte bürgerliche Sebastiani-Compagnie Düsseldorf" auftretenden Vogelschützen wetterte, weil sie sich von ihren kirchlichen Wurzeln vollständig gelöst hatten.

Düsseldorf war hier kein Einzelfall. 1825 wies der Kölner Erzbischof seine Pfarrer an, die Schützen aus der Kirche fernzuhalten, da durch "Thatumstände bewiesen ist, daß die sogenannten Schützengesellschaften an den Pfarrprozessionen feierliche Aufzüge veranstalten, wodurch die Religion herabgewürdigt, das Heilige dem Gelächter ausgestellt, die Andacht der Gläubigen gestört, und der Geist derselben von Gott abgezogen wird. Man pflegt bewaffnet, mit klingendem Spiele und Trommelschlag, oft in einem höchst lächerlichen Anzuge und mit ungeziemenden Gebärden, die Prozession zu begleiten. [...] Dieser Unfug kann nicht geduldet werden".

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war das Tischtuch zwischen Kirche und Schützen in Düsseldorf vollkommen zerschnitten. Kaplan Gustav Bayerle vermerkte 1844 in seiner Düsseldorfer Kirchengeschichte knapp: "Die Bruderschaft aber, wenn sie auch dem Namen nach noch besteht, ist doch in Wirklichkeit als aufgelöst zu betrachten, da die Gesellschaft der Vogelschützen immer mehr in Verfall geraten ist". Zur gleichen Zeit waren in der Stadt aber schon "mehrere geachtete Bürger" unterwegs, um einen Verein zur "Regenerierung des alten Schützfestes" zu gründen. Ziel war es, das "mehr und mehr gesunkene" Schützenfest "wieder auf eine frischere und fröhlichere Weise" begehen zu können und zu einem Volksfest zu machen, damit man, "wenn es auf ein patriotisches Unternehmen ankommt, man in unserer Stadt von Kastengeist, Standesunterschied und Absonderung nichts weiß".

Über das erste in diesem Geist veranstaltete Schützenfest schrieb das Düsseldorfer Kreisblatt am 26. Juli 1845: "Es ist eine schöne Sache um Bürger- und Volksfeste [...]. Sie sind Ausdruck des guten Vernehmens zwischen Fürsten und Volk. Unbedingt war dies ein großes Bindemittel zwischen Herrschern und Bürgern und sicherte und mehrte die Liebe zwischen dem Vater des Volkes und seinen Untertanen. Gerade die alten Volks- und Bürgerfeste sind Mittel, die Gemüter froh zu machen, aufzuheitern in dem Ernst des Lebens, das Alte, Ehrwürdige im Andenken zu erhalten und den Bürger zu seinen Pflichten wieder zu erstarken. Unter dem Volk selbst sind diese Feste ein dauerndes Bindemittel der verschiedenen Stände an einander, sie erheitern seinen Sinn, stärken seine Einigkeit und leiten den Geist von Wegen ab, die ihm verderblich sind. Solche Volksfeste sind namentlich die Schützenfeste".

Die kirchliche Bruderschaft unter dem Patronat des Heiligen Sebastian von einst war unverkennbar zu einem politischen Verein mutiert, der für gute Stimmung unter der sich sozial immer mehr ausdifferenzierenden Bevölkerung sorgen sollte. Folgerichtig hieß es in den 1846 verabschiedeten Statuten: "Der St. Sebastianus-Schützen-Verein zu Düsseldorf stellt sich zur Aufgabe, durch inniges Zusammenwirken und Zusammenhalten aller Kräfte Bürger- und Gemeinsinn zu fördern, unter allen Ständen eine auf gegenseitige Achtung und Anhänglichkeit beruhende innige Verbindung hervorzurufen und dadurch die Begehung eines Volksfestes zu sichern, an welchem alle anständigen Bürger, ohne Unterschied des Ranges und Verhältnisses, gleich freudigen Anteil zu nehmen berechtigt sind".

Religiöse Zielsetzungen sucht man in den Statuten des neuen Vereins, der sich ausdrücklich als "Wiedergeburt" der "1435 gestifteten" Sebastianus-Bruderschaft verstand, vergebens. Obwohl der an die Stelle der kirchlichen Bruderschaft getretene säkulare Verein von den Düsseldorfer Geistlichen zunächst mit Argwohn betrachtet wurde, entspannte sich im Laufe der Zeit das Verhältnis von Kirche und Schützen zusehends. Dazu trug sicherlich bei, dass die Sebastianer in der Lambertuskirche weiterhin das Titularfest im Januar und die Schützenhochämter zur Kirmes im Juli feierten.

Der Burgfriede endete in der NS-Zeit. Nach der totalen Gleichschaltung des Vereins schrieb Pfarrer Joseph Sommer 1936 in die Pfarrchronik von St. Lambertus: "Die St. Sebastianus Schützengesellschaft existiert nicht mehr. Es gibt jetzt nur noch 'Deutsche Schützen !' Sie dürfen nicht mehr mit ihren Fahnen an kirchlichen Feiern teilnehmen. Ich habe gegen diese Entkirchlichung beim Chef, Albert Kanehl, Klage geführt. Selbstverständlich vergeblich. Die Gesellschaft schwimmt im neuen Fahrwasser und ruhig machen unsere 'Katholiken' diesen Affront gegen die Kirche und das sonst so betonte Volkstum mit. Dafür bat ich nunmehr auch, die Aufzüge an der Kirche der Störung wegen in Zukunft zu unterlassen".

10 Jahre später war alles wieder anders: Der Verein löste sich vom Führerprinzip, seit 1946 ist er wieder nach demokratischen Statuten organisiert und fand mit der Kirche erneut Frieden. Ab 1956 dürfen am Gedenktag des Düsseldorfer Stadtpatrons anstelle des Kirchenvorstandes die Sebastianer auf ihren Schultern den Schrein des Heiligen Apollinaris durch die Straßen der Altstadt tragen.

Ende gut, alles gut? Der kurze Abriss zeigt: In der Geschichte der Düsseldorfer Sebastianusschützen gibt es Abbrüche und Einbrüche, abgrundtiefe Abstürze und unverhoffte Wiederauferstehungen. 1316, 1435, 1845, 1946: Lothar Inden und seine mehr als 1000 Kameraden haben bei ihrer ausgelobten Selbstfindung die Wahl. Ungeachtet des Ausgangs bleibt der Befund: Der Verein hat eine lange Geschichte, eine viel zu lange. Die ersten 119 Jahre sind nicht belegt, die übrigen 581 Jahre noch zu wenig aufgearbeitet.

Wer die neue Festschrift zur Hand nimmt, wird schon im Vorwort enttäuscht. Hier wird gebeichtet, dass die Darstellung der ersten 675 Jahre unverändert aus den Jubiläumsschriften von 1935 und 1991 übernommen und nur die letzten 25 Jahre neu hinzugefügt wurden. Hier wäre sicherlich mehr möglich gewesen. Weniger Geschichte ist mehr Geschichte, jedenfalls dann, wenn sie gut aufgearbeitet ist. Das gilt auch für Namen: Weniger Geschichte im Vereinsnamen kann das Profil der Schützen nur schärfen.

(RP)
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