Düsseldorf Senioren teilen ihre Erinnerungen

Düsseldorf · Die Künstlerin Anne Mommertz schrieb zusammen mit Senioren aus Oberbilk ein Buch über das Zuhause-Sein. Mit Fotos und Geschichten von besonderen Erinnerungsstücken teilen sie ihre Lebenserfahrungen anderen Menschen mit.

 Siggi Eßer, Anne Mommertz und Melanie Stumpf (v.l.) zeigen das Erinnerungsbuch, in dem Oberbilker Senioren über ihre besonderen Lebenserfahrungen berichten.

Siggi Eßer, Anne Mommertz und Melanie Stumpf (v.l.) zeigen das Erinnerungsbuch, in dem Oberbilker Senioren über ihre besonderen Lebenserfahrungen berichten.

Foto: Andreas Endermann

Wenn die Senioren des Caritas "zentrum plus" an der Kölner Straße ins Erzählen kommen, dann sind es Geschichten, die Jahrzehnte überspannen. Es geht darin um Orte, die die Erzähler seit einer scheinbaren Ewigkeit nicht gesehen haben und um längst verstorbene Menschen, die ihnen teuer waren. Mit "Ein Stück Erinnerung" macht Anne Mommertz Momente aus dem bewegten Leben der Senioren jetzt wieder lebendig. Im "zentrum plus" fand die Künstlerin Gesprächspartner, die mit Berichten über ihre liebsten "Erinnerungsstücke" auch ihre eigenen Geschichten erzählen.

Die gebürtige Aachenerin Mommertz lebte zehn Jahre in Oberbilk. Ein Thema beschäftigt sie schon lange: "Mich interessiert, wie die Menschen sich mit Orten identifizieren." Wenn sie ältere Personen auf der Straße frage, ob sie Oberbilker seien, bekäme sie oft die Antwort: "Nein, ich komme ursprünglich aus...", gefolgt von einer detaillierten Geschichte aus Geburtsort, Umzügen und der Information, dass man ja eigentlich doch schon seit 50 Jahren in Oberbilk lebe. "Ich habe mich auch statistisch damit befasst", sagt Mommertz. "Es ist tatsächlich so, dass in Düsseldorf viel mehr Menschen um- oder zuziehen als in Köln oder Frankfurt." Die Identifikation mit dem Wohnort sei heute nicht mehr selbstverständlich, ebenso wenig entstehe sie von allein.

Sigi Eßer trug zu "Ein Stück Erinnerung" die Geschichte eines Koffers bei. Sinnbildlich steht er für die Erinnerung an den Vater, der damit Eßer und ihre Schwester in Baden-Württemberg besuchte und ansonsten in Berlin oder Stuttgart arbeitete. "Mein Vater ist viel gereist, für mich war das immer ein Urlaubskoffer", sagt Eßer. Nachdem die Mutter starb, zog er mit seinen zwei Töchtern nach Kriegsende - samt Koffer - nach Düsseldorf. "46 Jahre lebe ich schon in Oberbilk", sagt die 73-Jährige. "Ich habe viel gearbeitet, erst seit der Rente habe ich meine Nachbarn wirklich kennen gelernt."

Zu ihnen gehört auch Franco Gianserra. "30 Jahre lang sind wir uns immer wieder auf dem Einkaufsweg begegnet", sagt der 77-Jährige. Gianserra kam 1957 aus Italien nach Düsseldorf. Als Bau- und Stahlarbeiter fand er viele Freunde, Deutsch lernte er bei einem katholischen Priester als Messdiener. Für ihn gibt es kein andere Heimat als Oberbilk. "Ich war schnell integriert und habe mich hier immer zuhause gefühlt. Umziehen kann ich mir überhaupt nicht vorstellen", sagt Gianserra. Seine beiden Töchter wohnen in der Nähe an der Solinger Straße, zudem sei er auch im "zentrum plus" beschäftigt. "Ich helfe bei der Betreuung, mache Frühstück und gehe einkaufen."

"Im Gegensatz zu den anderen Stadtteilen gibt es hier im Zentrum viele Männer", sagt Mommertz. Nach der Schließung der Stahlwerke seien viele von ihnen arbeitslos geworden - und es zum Teil bis zur Rente geblieben. Im "zentrum plus" fänden sie wieder zusammen. "Ich finde es wichtig, dass Menschen miteinander in Kontakt kommen", sagt Mommertz. "Der öffentliche Raum muss belebt sein, damit sich die Leute wieder mit ihrem Wohnort identifizieren können." Über das Internet sei das nicht möglich. Ein Erlebnis bei einer Lesung im "zentrum plus" habe ihr das klargemacht. Ein Rentner, mit dem Mommertz für ein anderes Buch zusammengearbeitet habe, erzählte aus seinem Leben. Dabei ging es auch darum, wie er als Kind aus den ehemals deutschen Ostgebieten vor der Roten Armee floh. "Es waren viele Migranten aus dem Stadtteil im Publikum", sagt Mommertz. "In ihren Heimatländer wurde unsere Vergangenheit nicht unterrichtet." Viele hätten diese Geschichte von Armut und Vertreibung nicht glauben können. "Sie wussten nicht, dass es Menschen hier damals ähnlich ging wie ihnen."

(bur)
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