Düsseldorf Spiel ohne Brett

Düsseldorf · Markus Malek, den sogar seine Eltern mit seinem Kunstnamen Kendel Ventonda ansprechen, will mit Freunden ein eigenes Rollenspiel vermarkten. Das hat zwar ein Regelbuch, lebt jedoch völlig von der Fantasie der Teilnehmer.

Düsseldorf: Spiel ohne Brett
Foto: Hans-Juergen Bauer

Einmal hat Kendel Ventonda drei Tage lang an einer einzigen Sitzung eines Pen-&-Paper-Spiels (englisch für "Stift und Papier") teilgenommen. Das ist eigentlich kaum erwähnenswert, wenn man berücksichtigt, dass ein vollständiges Spiel theoretisch ein ganzes Menschenleben lang dauern kann. Anders als bei Brett- oder Rollenspielen für Computer und Spielekonsolen, braucht ein Pen-&-Paper-Spieler keine Technik, keine Spielfiguren, sondern neben ein paar Würfeln und Schreibmaterial nur eines: die eigene Fantasie.

Zauberwelten mit Zwergen, Feen, Orks und Tierwesen - seien sie in Büchern, Spielen, Serien oder Filmen angesiedelt -, gelten in den Augen vieler als ein Fluchtort für gesellschaftlich Randständige, für Menschen, die mit der Realität und ihren Bewohnern nicht umgehen können. Kurz gesagt: für sogenannte Nerds (sprich "Nörds"). Dass "Die vergessenen Chroniken", das von Ventonda und seinen Freunden selbst entwickelte und bald im Handel erhältliche Pen-&-Paper-Spiel, ein Anziehungspunkt für schüchterne Menschen ist, will der 31-jährige Düsseldorfer gar nicht leugnen.

Den Vorwurf, die Spieler würden durch ihr Hobby asozial, widerlegt er aber: "Im Gegensatz zu PC-Spielen kann ich Pen-&-Paper ja gar nicht alleine spielen. Das geht nur, wenn ich mich zum Spielen treffe", erklärt Ventonda, der unter seinem bürgerlichen Namen Markus Malek als IT-Manager für ein Pharmaunternehmen in Reisholz arbeitet. Mit 14 begann Ventonda, der sich damals noch Markus nannte, zusätzlich zu den weit verbreiteten Computerspielen auch die weniger bekannten, fantastischen Gesellschaftsspiele des Pen-&-Paper-Genres der 70er und 80er Jahre auszutesten. "Advanced Dungeons & Dragons" (das beliebteste seiner Art, wörtlich übersetzt "Verliese und Drachen, erweitert") zum Beispiel oder "Das schwarze Auge". Obwohl er dafür durch seinen Job immer weniger Zeit hat, trifft er sich bis heute jede zweite Woche mit Freunden. Mindestens drei Stunden dauert eine Sitzung, bei denen alle Spieler an einem Tisch sitzen und gemeinsam eine Geschichte spinnen. Fantasie gibt es eben nicht auf Knopfdruck.

Meist gibt Ventonda den Spielleiter, dessen Aufgabe es ist, die Atmosphäre zu schaffen und die fiktive Umgebung zu beschreiben, in der sich die Charaktere der Mitspieler befinden. Ziel des Spiels ist es, epische Abenteuer zu erleben, an deren Ende im Gegensatz zu vielen Computerspielen nicht die Rettung der Welt liegen muss, wie Ventonda betont: "Die Gruppe trifft sich im Spiel zufällig und geht auf Reisen, um die Welt zu entdecken." Dadurch ließen sich die Spiele theoretisch unendlich lange weiterspielen. Was die menschlichen oder tierischen Fabelwesen, die sich die Spieler vorher ausdenken, dabei erleben, hängt von der Vorstellungskraft ab. Wer im wirklichen Leben ein stiller Zeitgenosse ist, könnte zum Beispiel in die Rolle eines Doppelaxt schwingenden, grunzenden Kriegers schlüpfen, ein Macho im realen Leben bevorzugt in der Spielwelt vielleicht eine zarte Zauberin - alles hat Ventonda schon erlebt.

Je mehr Hemmungen die Spieler ablegen und sich gestisch und stimmlich auf das kommunikative Rollenspiel einlassen, desto packender ist das Erlebnis - in der Szene spricht man von Immersion, dem gewünschten, sich von selbst einstellenden Eintauchen. Treffen die Charaktere im Spiel auf (immer wieder neu ausgedachte) Hindernisse wie Klippen, die sie erklimmen, Informanten, die überzeugt werden oder Gegner, die bekämpft werden müssen, entscheidet das Würfelglück im Zusammenspiel den zu Beginn festgelegten Charakterwerten wie Stärke, Charisma oder Intelligenz über den Ausgang der Begegnung.

Wer dem Spielleiter beispielsweise sagt, die eigene Figur wolle einen gefährlichen Berg heraufklettern, um sich umzuschauen, könnte er dafür einen zu geringen Wert würfeln, schlimmstenfalls einen sogenannten "fatalen Fehlschlag" und damit einen tödlichen Sturz erleiden. Je nachdem, wie "realistisch" gespielt wird, heißt das, dass das Spiel für diesen Teilnehmer vorbei ist. Besonders ärgerlich, wenn das Spiel Teil einer in Echtzeit mehrere Monate umspannenden "Kampagne" ist. "Dann lassen wir gestorbene Mitspieler auch mal einen neuen Charakter erschaffen, der sich der Gruppe vielleicht am nächsten Tag anschließt", erklärt Ventonda.

Die Gruppe seiner Mitspieler hat sich über die Jahre stets erneuert, immer wieder antworteten interessierte Facebook-Nutzer auf Anfragen, die Ventonda veröffentlicht, falls jemand die Runde verlassen hat. "Ich liebe es, Menschen zusammenzubringen", sagt der 31-Jährige. Er habe schon mit Blinden und Taubstummen gespielt, die eigene Wege nutzen müssten, sich zu verständigen. Zu seinen Freunden habe er eine intimere und persönlichere Beziehung aufbauen können, sagt Ventonda: "Man bringt sich dabei gegenseitig an emotionale Grenzen." Damit das funktioniert, bedarf es eines Spielleiters, der eine goldene Regel befolgt: "Weniger ist mehr. Man muss so wenig wie möglich selbst erzählen und die Spieler ihre eigene Fantasie benutzen lassen."

(bur)
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